Der Markt des Wilden Westens

Wer in Luzern eine neue Bleibe braucht, sucht meistens lange. Findet man eines Tages was, spielen meist unangenehme Faktoren die grösste Rolle, wer in die Wohnung ziehen darf. Eine Sezierung der aktuellen Lage im Luzerner Wohnungsmarkt.

Autor:in:
Daria Wechsler und Jan Rucki
Titelbild:
z.V.g.
Hinweise:

Monika (Klarname der Redaktion bekannt) ist 52 Jahre alt, eine weiblich gelesene Person, alleinstehend und war lange krankgeschrieben. Jetzt ist sie arbeitslos, bezieht Sozialhilfe und muss aus der Wohnung raus, in der sie den grössten Teil ihres Lebens gewohnt hat. Monika sucht seit rund anderthalb Jahren nach einer bezahlbaren Wohnung in der direkten Agglomeration Luzerns – vergebens.

Bezahlbarer Wohnraum ist ein global leidiges Thema. So ist auch die Situation auf dem Luzerner Wohnungsmarkt prekär geworden. Es gibt kaum mehr preisgünstigen Wohnraum, die Mieten steigen immer weiter. Luxusüberbauungen mit horrenden Mietpreisen ersetzen Wohnraum für Alleinstehende, WGs oder Menschen mit niedrigem Einkommen. Gleichzeitig stehen Wohnungen leer aus Renditegründen und Bauland liegt brach, ohne dass seitens Politik gross etwas für bezahlbaren Wohnraum getan wird.  

Wie man dem Problem immer marginalen existierenden günstigen Wohnraums entgegenwirken kann, ist die zentrale Frage der Wohnungspolitik. Ansätze gibt es verschiedene, gefruchtet hat wenig. Und die verbleibenden günstigen Wohnungen – wer wohnt darin? Monika jedenfalls nicht. Die Wohnungen, die noch bezahlbar und nicht komplett heruntergekommen sind, werden überrannt von Interessent:innen. Bald blühen uns dieselben Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen wie wir sie von Zürich kennen.  

Eine passende Wohnung? Purer Luxus!

«Da habt ihr aber Glück gehabt!», sagen Hinz und Kunz zu den glücklichen Neumieter:innen einer neuen Wohnung im Zentrum der Stadt, die nicht nur zahlbar und einigermassen funktional, sondern auch noch schön und ruhig und eben – zentral ist. Stimmt also der häufig gesagte Satz, dass Glück bei der Wohnungssuche absolute Seltenheit ist? Dass das Finden einer passenden Wohnung zum Luxus geworden ist? Wer müssen wir heute sein, um in der Stadt leben zu können? Money rules the world – aber nicht nur, nicht wahr?

«Ja, ich weiss. Das Haus gehört dem Onkel meiner Freundin, weisst du.» So mag die eine oder andere Antwort lauten auf die Frage, wie zur Hölle diese Wohnung ergattert wurde. Tunliches Stichwort für unsere Geschichte ist also der Begriff Vitamin B. Inwiefern spielt es eine Rolle in der Suche nach neuen Habitaten? Ist es ein Problem für uns? Und wenn nicht für uns, für wen dann?

Nachgefragt beim Co-Geschäftsleiter des Luzerner Mieter:innenverbands, Daniel Gähwiler, spielt Vitamin B insbesondere bei privaten Kleineigentümer:innen eine grosse Rolle. «Vitamin B ist vor allem dann ein Problem, wenn Wohnungen ausserhalb der offiziellen Kündigungsfrist weitervergeben werden, an Freund:innen, Verwandte und Bekannte. Dazu kommt, dass einer der häufigsten Kündigungsgründe die Anmeldung von Eigenbedarf ist.» Diese Wohnungen werden nämlich gar nicht erst inseriert. Hauseigentümer:innen können so nicht nur wohl vermeintlich entstehende Lücken im Mietverhältnis vermeiden, sondern die Mietobjekte ihresgleichen vermieten und Menschen recht plötzlich dem eher aussichtslosen Wohnungsmarkt ausliefern.  

«Vitamin B ist ein grosses Problem»  

Eine Freiheit, die Vermieter:innen in Luzern gegeben ist, doch gemäss Gähwiler auch zu existenziellen Problemen für Suchende führen kann: Davon betroffen sind nicht selten Nicht-Schweizerisch gelesene Personen, von Rassismus Betroffene, Armutsbetroffene, Alleinerziehende und auch Menschen mit Behinderung. «Sie finden keine Wohnungen und müssen in prekären Lagen in zu kleinen Wohnungen mit zu vielen Personen, oder über ihrem finanziellen Budget wohnen. Im extremsten Fall wird ihnen dann eine Notwohnung von der Gemeinde zugewiesen», führt Gähwiler aus und ergänzt: «Vitamin B ist dabei ein so grosses Problem, da es durch andere Probleme akzentuiert wird.»  

Tatsächlich spielen nicht immer nur finanzielle Aspekte eine Rolle im Auswahlverfahren. Gähwiler hat unlängst eine Rückmeldung von einem jungen, wohnungssuchenden Paar erhalten, die wohl nicht eines seltenen Erlebnisses entstammt: «Beide hatten sich beworben. Die Frau, die einen nicht Schweizerisch gelesenen Nachnamen hat, erhielt eine Absage. Der Mann, mit Schweizerischem Nachnamen, erhielt ein paar Tage später eine Zusage.»  

Eine Art von Wohnungsvergabe, bei der Vitamin B von einer Rassistischen Entscheidungsgrundlage getrumpft wird. Problem: Im Mietrecht gibt es keine Regulierung für die Gründe für Absagen – Absagen sind immer erlaubt. Von ebendiesen Absagen sind neu zugezogene, Armutsbetroffene, Alleinerziehende sowie von Rassismus betroffene Menschen überdurchschnittlich oft betroffen.

Ein Problem - viele Sichtweisen

Doch wie gehen die Vermieter:innen selbst mit solchen Vorwürfen um? frachtwerk hat vier Immobilienverwaltungen, drei Wohnbaugenossenschaften und die Stadtverwaltung Luzern mit diesen Fragen konfrontiert – und hat unterschiedliche Resonanz verzeichnen können.

Livit AG ist eine Immobilienfirma, die beispielsweise den im Volksmund «Cervelat-Palast» genannte Bau am Luzerner Bundesplatz verwaltet. «Bei uns eingehende Bewerbungen durchlaufen eine automatische Bonitätsprüfung. Fällt diese positiv aus, sind unter anderem das rasche Einreichen der Bewerbung und deren Vollständigkeit entscheidend.»  

Zu Kriterien, die eine gewisse Personengruppe überbevorteilen würde, sieht Livit bei ihrem Auswahlverfahren keine Gefahr: «Potenzielle Mieterinnen und Mieter bewerben sich bei Livit nicht über schriftliche Bewerbungen mit Foto und Lebenslauf, sondern über ein Onlineformular. Dieser durchgängig digitale Prozess gewährleistet ein Maximum an Objektivität. Entscheidend sind vor allem das korrekte und das schnelle Ausfüllen unseres Online-Formulars.»  

Durch einen digitalisierten und standardisierten Bewerbungsprozess sei «eine Bevorteilung ausgeschlossen». Was die Firma für einen offenen und einer möglichst breiten Bevölkerung zugänglichen Wohnraum beiträgt, verweist Livit an den Hauseigentümer:innenverband.  

Auf unsere Anfrage bei der Gebrüder Amberg Bauunternehmung AG wurde mit Ablehnung reagiert. Da die Firma ihre Immobilien verwalten lässt, sieht sie keine Relevanz, sich für das Thema zu interessieren. Fragen, die wir der Arlewo AG zustellten, blieben unbeantwortet.

Weitaus selbstkritischer zeigt sich auf Anfrage die Schmid Immobilien AG. Ihr gehören unterschiedliche Liegenschaften in Luzern, die sie auch selbst verwaltet. «Dies kann nie komplett ausgeschlossen werden», heisst es hier auf die kritische Nachfrage, ob es Personen gibt, die bevorteilt werden. Welche Relevanz hat das Thema aber in den Objekten der Firma?  

«Je städtischer, desto grösser. Hier gilt nicht das Vitamin B der Verwaltungen, sondern der Mieter:innen, die gekündigt haben und aus ihrem Umfeld schon viele Interessent:innen empfehlen. Da dies der einfachste Weg ist, eine Wohnung zu vermieten ohne Kosten für Insertionen zu verursachen, gehen Wohnungen so unter der Hand weg», erklärt uns Marco Derungs, Leiter Immobilien-Management bei der Schmid Immobilien AG.  

Ein Problem, das auch der Mieter:innenverband erkennt. Dieser sieht die Hauptproblematik aber eher bei den Kleineigentümer:innen und Vermieter:innen: «Auch bei einer ausserordentlichen Kündigung wollen die Vermieter:innen oftmals die Kontrolle darüber behalten, wer in ihren Liegenschaften wohnt. Sie versuchen die bisherigen Mieter:innen zum Zahlen zu verpflichten, bis eine von ihnen ausgewählte neue Mieter:innenschaft einziehen kann.»  

Gemeinnütziger Wohnungsbau als zentrales Ziel

Für Neuzuzüger:innen und Menschen mit weniger sozialem Kapital ein Todhammer. Im Gegensatz zum Mieter:innenverband Luzern hat man bei der Stadt Luzern bisher noch keine Beschwerden von sich benachteiligt fühlenden Menschen erhalten, wie sie auf Nachfrage klarstellt. Wohl nicht zuletzt auch aus diesem Grund sieht die Stadt woanders Handlungsbedarf: «Die Stadt erkennt den grössten Handlungsbedarf bei der Sicherung und Förderung von bezahlbarem Wohnraum insbesondere für Familien, ältere Personen und sozial benachteiligte Haushalte.»  

Aus diesem Grund unterstützt die Stadt gemeinnützigen Wohnungsbau, der auch zentrales Ziel der städtischen Wohnraumpolitik ist. So sollen diese Angebote neu zugezogenen Personen zur Verfügung stehen. «Darüber hinaus gibt es in der Stadt unter anderem mit der Stiftung «Student Mentor Foundation» ein auf «Studierendenwohnen ausgerichtetes gemeinnütziges Angebot». Dieses richtet sich an junge, studierende Personen, nicht aber an weitere belastete Personengruppen.  

Die Stadt hat hier auch keine wirkliche Handhabung: «Es gibt dazu kein eigentliches Tool. Die Handhabung erfolgt in erster Linie über die aktive Bodenpolitik und die Vergabe von städtischem Land im Baurecht an Gemeinnützige. Bei der Vergabe von städtischen Arealen im Baurecht wird ein vielfältiges Wohnungsangebot für breite Bevölkerungsgruppen als ein Bewertungskriterium für den Zuschlag angewendet.»

Damit auch Personen, die finanziell minderbemittelt sind, die Chance auf lebenswerten Wohnraum haben, setzt sich die Stadt durch finanzielle Förderung für die Gemeinnützige Stiftung für preisgünstigen Wohnraum, kurz GSW, ein: «Die GSW achtet darauf, dass insbesondere Menschen mit Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt, beispielsweise aufgrund von wenig finanziellen Mitteln oder Suchtmittelabhängigkeit, eine passende Wohnung finden können», führt die Stadt auf Anfrage aus.  

Inwiefern entschärft dieses Angebot aber die Benachteiligung marginalisierter oder zahlungsschwächeren Gruppen auf dem Wohnungsmarkt? Der Mieter:innenverband hat eine klare Haltung: «Die GWS ist eine wichtige und hilfreiche Institution, dass sie nur etwas mehr als 300 Wohnungen im Portfolio hat, zeigt aber auch die Grenze auf, wieweit sie die Wohnsituation in Luzern prägen kann.»

Der Klassiker: Genossenschaftspunkte

Bei der Luzerner Wohnbaugenossenschaft EBG, auf jene die Stadt Luzern punkto «Wohnraum für alle» setzt, sieht die Wohnungsvergabe folgendermassen aus: «Bei uns muss man gemäss Reglement Mitglied sein, wenn man eine Wohnung haben möchte. Jede:r Genossenschafter:in sammelt Mitgliedspunkte und diese werden dann bei der entsprechenden Wohnungsbewerbung rangiert. Die Mitglieder mit den meisten Punkten können als erste eine Besichtigung vornehmen und dann entscheiden, ob ihnen die Wohnung passt oder nicht.  Wenn nicht, kommt die zweitplatzierte Person an die Reihe. Jede Wohnung hat gemäss Reglement auch eine Belegungsvorschrift und jedes Mitglied sammelt Punkte», erklärt uns Geschäftsleiter Pascal Ziegler. Und er meint klar: «Bei uns gibt es kein Vitamin B.»

Dennoch verwehrt auch das Punktesystem die Vergabe von Wohnungen an Neuzugezogene. Je länger man dabei ist, desto mehr Punkte. Je mehr Punkte, desto eher eine Wohnung. Natürlich hat das Punktesystem auch seine Vorteile: Wer Kinder hat, erhält mehr Punkte. Somit ist es für Familien einfacher, eine Wohnung mit bezahlbarem Mietzins zu übernehmen.  

Hier stellt sich aber auch die Frage, wer denn überhaupt die Chance hat, Wohnbaugenossenschaft-Mitglied zu werden? Eine finanzielle Hürde bleibt bestehen, was auch die ABL auf Anfrage bestätigt, dabei aber darauf verweist, dass soziale Hürden, durch den transparenten Wohnungsvergabeprozess mit den für alle gleichen Regeln abgebaut werden. Dass finanzielle Hürden aber meist automatisch soziale mit sich bringen und diese sich oftmals gegenseitig beeinflussen, wird ausgeklammert.  

Um diesen Hürden entgegenzuwirken, gibt es bei der Baugenossenschaft Wohnwerk beispielsweise einen Solidaritätsfonds, der finanzielle Aushilfe leistet. Auch liegen die Chancen, eine Wohnung zu bekommen, nicht vorwiegend auf der Mitgliedschaftsdauer, sondern auch soziale Aspekte (wie die soziale Durchmischung einer Siedlung) und die Dringlichkeit der Wohnungssuche spielen zentrale Rollen. Gemäss Geschäftsführer Martin Wyss sei die Genossenschaft darum bemüht, ihre Verfahren stets weiterzuentwickeln und er sieht die Wohnungsfrage als zentrale gesellschaftliche Frage unserer Zeit.  

Die Problematik ist äusserst komplex, diese Geschichte nur ein kleiner Anschnitt der aktuellen Situation im Luzerner Wohnungsmarkt. Das Hauptproblem liegt im mangelnden, bezahlbaren Wohnraum als solcher und dessen gerade scheinbar unaufhaltsames weiteres Verschwinden. Dennoch ist es für neu Zugezogene, minderbemittelte Personen oder von Diskriminierung betroffene Menschen eine noch viel höhere Hürde, im Luzerner Wohnungsmarkt Chancen zu haben.  

Monika profitiert nicht von Vitamin B und wird noch länger nach einer neuen Bleibe suchen müssen. Das Tool? Keins. Die Strategie? Bloss nicht aufgeben. Denn wirklich helfen kann und will ihr bei ihrem Problem eigentlich niemand von jenen, die das haben, was sie braucht.  

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