Friedas Fall – die wahre Schuldfrage

«Schuldig» – dieses Urteil fällt 1904 über Frieda Keller, eine junge Schneiderin aus dem Thurgau, die ihren fünfjährigen Sohn tötet. In der neuen Verfilmung «Friedas Fall» (2024) von Maria Brendle wird die brutale Realität der Justiz sichtbar. Doch wer trägt die Schuld wirklich?

Autor:in:
Juliette Dunaigre
Hinweise:

Maria Brendles Verfilmung «Friedas Fall» (2024) entfacht eine überfällige Debatte über Gleichstellung, Feminismus und die gesellschaftliche Konstruktion von Schuld in der Schweiz. Der Film lässt das Publikum erschaudern, denn die Parallelen zu heutigen Strukturen sind unübersehbar. Wer trägt Verantwortung, wenn eine Frau in einer patriarchalen Welt keinen Ausweg mehr sieht? Frieda Keller wird verurteilt, doch die wahren Schuldigen bleiben ungestraft.

Im Schatten des Unrechts

Frieda ist arm, alleinstehend, Mutter – und ein Opfer von Gewalt. Der Vater ihres Kindes ist zugleich ihr Vergewaltiger, aber das Gericht interessiert sich nicht für seine Tat. Ihre Familie weiss von der Vergewaltigung, lässt sie aber im Stich. Der Staat schützt sie nicht, die Gesellschaft verurteilt sie. Keine finanziellen Mittel, keine Perspektive – die Spirale der Verzweiflung zieht immer weiter an. Als Frieda keinen Ausweg mehr sieht und es schliesslich zur schrecklichen Tat kommt, ihr eigenes Kind zu töten, wird sie sofort als Mörderin abgestempelt. Ihre Geschichte wird nicht gehört, ihre Gründe spielen keine Rolle. Ein männliches Gericht spricht über ihr Leben, über ihren Körper, über ihre Schuld.

Das Rechtssystem von 1904 schützt keine Vergewaltigungsopfer, keine unverheirateten Mütter, keine Frauen ohne finanzielle Absicherung. Das Urteil wird ohne Milderung gefällt, da Frauen in dieser Zeit nicht über ihr eigenes Leben bestimmen dürfen.

Die Schuld der Gesellschaft

Frieda trägt die Schuld. So zumindest lautet das Urteil. Doch die wahre Schuld liegt woanders: Bei einem Rechtssystem, das Frauen nicht schützt. Bei einer Gesellschaft, die ihnen kein Überleben ohne Mann ermöglicht. Bei einer Moral, die Täter schützt und Opfer bestraft. Maria Brendles Film zeigt mit erschreckender Intensität, wie tief patriarchale Strukturen in das Leben von Frauen eingreifen. Frieda war nicht nur ihrem Vergewaltiger, sondern einem ganzen System ausgeliefert, das Frauen auf Gehorsam, Scham und Abhängigkeit reduzierte.

Das stellen der Gerechtigkeitsfrage lag nicht im Interesse eines Systems, das Männer bevorzugte. Frauen hatten keine politischen Rechte, verheiratete Frauen waren ihren Ehemännern unterstellt, unverheiratete Frauen oft einem männlichen Vormund. Ohne deren Zustimmung konnten sie weder ihr Vermögen verwalten noch Verträge abschliessen.

Solidarität heisst Widerstand

Die Verurteilung Friedas rief damals bereits Widerstand hervor. Der Bund Schweizerischer Frauenvereine kritisierte das Urteil scharf und erklärte, es entspreche zwar dem Buchstaben des Gesetzes, aber nicht dem lebendigen Rechtsbewusstsein der Gegenwart. Ohne Widerstand und öffentliche Empörung hätte das Urteil vermutlich ohne weiteres Aufsehen Bestand gehabt.

Erst 1971 wurde das Frauenstimmrecht in der Schweiz auf nationaler Ebene eingeführt – in Appenzell Innerrhoden sogar erst 1991. Dass Frauen so lange nicht über ihr eigenes Schicksal mitbestimmen durften, zeigt, wie tief patriarchale Strukturen verankert sind. Vergewaltiger werden nach wie vor durch rechtliche Schlupflöcher geschützt, Femizide oft nicht als solche benannt, und die Dunkelziffer häuslicher Gewalt ist hoch. Frauen tragen weiterhin die Hauptlast unbezahlter Care-Arbeit, verdienen weniger und sind häufiger von Altersarmut betroffen.

Die Geschichte lehrt uns, dass durch Widerstand und Solidarität moralische und gesellschaftliche Normen herausgefordert und ein Bewusstsein geschaffen werden kann, wie es unsere Vorgänger:innen getan haben.

Nur Ja heisst Ja

Friedas Geschichte ist über 100 Jahre alt – und doch verstörend aktuell. Bis heute werden Opfer sexualisierter Gewalt misstrauisch beäugt. Bis heute müssen Frauen sich rechtfertigen, warum sie sich nicht gewehrt haben. Bis heute wird von ihnen erwartet, die Schuld bei sich selbst zu suchen.

Das überarbeitete Sexualstrafrecht der Schweiz gilt erst seit 2024. Vorher musste ein Opfer beweisen, dass es sich aktiv gewehrt hat und dass eine Nötigung stattfand – als wäre es seine Verantwortung, eine Vergewaltigung zu verhindern. Die Bringschuld lag jahrhundertelang bei den Falschen. Und in vielen Bereichen tut sie das immer noch.

Heute gilt mit der Revision des Sexualstrafrechts das «Nein heisst Nein»-Prinzip. Eine Vergewaltigung wird nicht mehr nur unter «Nötigung» behandelt, sondern wenn eine Person ihre Ablehnung klar kundtut. Der grösste Graubereich zwischen Ja und Nein wird als Zustimmung definiert, was im Gegensatz zum Konsensprinzip «Ja heisst Ja» steht, das bereits in einigen europäischen Ländern gilt.

Quelle: Stand 1. Juli 2024 swissinfo.ch

Wer ist wirklich schuldig?

«Friedas Fall» ist mehr als eine historische Erzählung. Es ist eine Mahnung. Eine Erinnerung daran, dass Schuld oft nicht da liegt, wo sie zugeschrieben wird. Dass nicht die Opfer, sondern die Strukturen angeklagt werden müssten.

Der Film hinterlässt dank beeindruckender Cinematographie, fesselnder Filmmusik und herausragenden schauspielerischen Leistungen ein beklemmendes Gefühl. Er zeigt die Mechanismen patriarchaler Gewalt, die damals wie heute funktionieren. Frieda Keller wurde verurteilt – doch ihre wahre Schuld war nicht die Tat. Ihre wahre Schuld war, eine Frau zu sein, die keinen Platz in der Gesellschaft hatte.

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