Er trinkt einen Chai Latte mit Kuhmilch. Fabian (Name geändert) ist 21 Jahre alt und sitzt mir gegenüber in einem hippen Kaffee in der Stadt. Er trägt einen grossgeschnittenen Hoodie und eine Arcteryx Mütze, seine Geldbörse verstaut er in seiner Freitag-Bag. Dann schaut er mich mit einem schelmischen Grinsen an und signalisiert mir, dass er bereit für meine Fragen ist. Fabian und ich haben kein Date, wir treffen uns, um übers Daten zu reden. Der 21-Jährige ist noch nicht lange Single. Während einer Woche war er auf einer Dating-App aktiv, er hatte zwölf Matches. Getroffen hat er nur eine dieser Frauen. Nach diesem Gespräch wird er sie zum dritten Mal treffen.
«Man will nicht gerade auf den ersten Zug aufspringen», lautet seine Antwort, als ich ihn frage, wieso er denn weitergeswipet hat, obwohl er bereits mehrere Matches auf der Dating-App hatte. Trotzdem scheint er jetzt nicht mehrgleisig zu fahren, die App ist deaktiviert, er trifft keine anderen Frauen. «Bei ihr war es direkt lustig und das Interesse spürbar», sagt er über die Frau, die er nachher trifft.
Neben Fabian habe ich auch die 26-jährige Laura (Name geändert) für diesen Artikel getroffen. Sie ist eine der vielen Frauen, die gerne mit mir über ihr Dating-Verhalten sprechen wollten. Ich habe fünf Männer angefragt. Fabian ist nicht nur der Einzige, der mir zugesagt hat, er war auch der Einzige, der mir auf meine Anfrage geantwortet hatte.
Anders als bei Fabian ist Lauras Dating-App aktuell nicht pausiert. Als sie bei unserem Gespräch Bumble öffnet, ploppt direkt eine Mitteilung auf: «Aber hallo – 1915 Leute haben dich geliked…», für vier Franken könnte sie einen Tag lang die Profile dieser fast 2'000 Männer anschauen.
«Viele Likes, aber nichts Spannendes dabei»
Laura ist seit drei Jahren Single. Seit Mitte dieses Jahres nutzt sie die Dating-App Bumble wieder intensiver. Beinahe 2'000 Männer haben sie seither nach rechts geswipet, wollen sie potenziell also daten. «Viele Likes, aber nichts Spannendes dabei, woraus etwas Ernstes entstehen könnte», sagt sie, als ich sie frage, warum es denn bisher nicht funktioniert hat.
Sie höre auf, einen Mann weiter kennenzulernen, wenn sie das Gefühl habe, dass es nicht passt, oder wenn gerade viel los sei: «Es passiert so viel nebenbei, dass ich das Interesse verliere.» Das bestätigt auch Amel Rizvanovic. Er ist psychologischer Berater mit dem Schwerpunkt auf Schema-Arbeit. Er coacht Paare und Einzelpersonen in der Praxis, die er gemeinsam mit seiner Partnerin und Paartherapeutin Felizitas Ambauen führt. Sie hostet den Schweizer Nr. 1 Podcast «Beziehungskosmos».
«Wir leben in verdichteten und beschleunigten Zeiten, sind ständig busy, haben wenig Zeit, noch weniger Energie – auch nicht fürs Dating», schreibt der Experte. Dennoch bleibe den Menschen das Bedürfnis zu Beziehungen, Intimität, Nähe und Wertschätzung. Dafür möchten sich Singles aber nicht anstrengen: «Zugleich aber viel Auswahl haben, das Maximum herausholen – fast wie Schnäppchenjäger – und währenddessen das Risiko von Ablehnung minimieren.» Ein Buffet, das Online-Dating zu offerieren scheint.
«Das Daten ist momentan hauptsächlich wegen Kompromissen so schwierig», sagt Laura, nachdem sie bei unserem Gespräch einen Schluck von ihrem Kaffee getrunken hat. «Oder der Gedanke, für eine andere Person müsse man weniger Kompromisse machen.» Laut Amel Rizvanovic spiele die Aussicht, dass man jederzeit noch jemand Besseres kennenlernen könnte, eine grosse Rolle beim Dating, besonders seit Dating-Apps: «Diese vermeintlich unendliche Auswahl geht für viele einher mit Gefühlen von Überforderung und Unzugänglichkeit.»
Er stellt die Fragen: Wieso sich verletzlich zeigen und sich wirklich auf jemanden einlassen? Wieso das Risiko eingehen, sich zu committen? Woher weiss ich, dass ich nicht schnell austauschbar und beliebig bin? «Das kann zu viel Verunsicherung führen und Angst machen», sagt der psychologische Berater.
Ist es der Graben oder das Swipen?
Neben des Überangebots, der Unsicherheiten und Ängsten, die das Online-Dating mit sich bringt, steht jungen heterosexuellen Singles eine weitere Barriere im Weg: ein politischer Graben. Laut einer Schweizer Studie, die in der NZZ zitiert wird, wünschen sich 40 Prozent der Frauen zwischen 18 und 35 Jahren einen Feministen als Partner. 30 Prozent der Männer wollen hingegen auf keinen Fall mit einer Feministin zusammen sein. Dieser Geschlechtergraben macht nicht beim Feminismus Halt, sondern zieht sich durch verschiedene politische Grundwerte. Eine Entwicklung, die weltweit zu beobachten ist.
Laut dem Wochenmagazin «The Economist» tut sich zwischen jungen Männern und Frauen eine auffällige Kluft auf. So gab es in Deutschland bei den Bundestagswahlen 2021 den bisher grössten Links-Rechts-Unterschied zwischen jungen Frauen und Männern. In Portugal gewann die rechtsextreme Partei Chega am 10. März dank der Unterstützung junger Männer stark an Stimmen. In Südkorea wurde 2022 ein offen frauenfeindlicher Präsident gewählt. Fast 60% der Männer in ihren Zwanzigern stimmten für ihn, 58% der Frauen in diesem Alter für seinen Gegenkandidaten.
Werte spielen eine wichtige Rolle bei der Partnersuche und in Beziehungen, sagt Amel Rizvanovic. «Wir leben in einer Zeit starker politischer Polarisierung, die den gesellschaftlichen Dialog zum Schweigen zu bringen scheint.» Im Extremfall werde nur noch die eigene gesellschaftliche Bubble gehört und toleriert. Stark unterschiedliche Wertevorstellungen, zu bspw. Gleichberechtigung, Care-Arbeit oder das Recht auf Abtreibung, können dramatische Auswirkungen auf die Lebensentwürfe potenzieller Paare haben und somit Beziehungskiller sein.
Romantik ist Slow-Food
Beim Daten romantisch zu sein scheint in der heutigen Zeit ungewöhnlich. Dating besteht wohl eher aus Abwägen, ob das Gegenüber den eigenen Wertvorstellungen gerecht wird, sowie dem nur bedingten Offenbaren der eigenen Gefühle – denn die Angst vor Verletzlichkeit scheint dem Mut zu Gefühlen zu überwiegen. Ist die Angst vor Ablehnung gestiegen, weil das Angebot durch Dating-Apps zugänglicher ist? «Aus meiner Sicht geht es nicht darum, Online-Dating generell zu verteufeln, das wäre viel zu undifferenziert», sagt der psychologische Berater Amel Rizvanovic. «Es wäre hilfreicher, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir die Apps nutzen.»
Laura, die inzwischen wohl über 2'000 Männer daten könnte, will eigentlich solche Apps gar nicht mehr nutzen: «Ich habe das Gefühl, das Daten würde mir wieder mehr Spass machen, wenn man dort anfängt miteinander zu reden, wo man ist – und nicht auf dem Handy.» Mehr Tiefe wünscht sich die 26-Jährige. Ein Verlangen, das die meisten Dating-Apps laut Amel Rizvanovic nur bedingt erfüllen könnten: «Viele Dating-Apps scheinen wie Fast Food konzipiert – verlockend und kurzfristig befriedigend, während mittel- und langfristig die eigentlichen Bedürfnisse frustriert bleiben.»
Romantik. Sie schlummert wohl noch in jedem Menschen, irgendwo. Ich nehme an, dass es vielen wohl einfach schwerfällt, sie auszuleben. Entweder vertritt das Gegenüber andere Grundwerte, die es verunmöglichen, sich emotional überhaupt auf diese Person einzulassen, oder die Angst, ersetzt zu werden, ist zu gross, um sich emotional zu öffnen. Die Lösung? Einerseits wohl der Versuch, Gräben zu schliessen – sich über andere Meinungen zu informieren, gesellschaftliche Veränderungen auf der Welt versuchen zu verstehen – andererseits wohl Ängste zu überwinden: «Intimität bedingt, dass wir uns öffnen. Nähe, dass wir uns verletzlich zeigen und Emotionen zum Ausdruck bringen, das Risiko eingehen, abgelehnt zu werden», sagt Amel Rizvanovic. Romantik sei ein Tanz und ein Wagnis: «Dieser Tanz braucht Raum, Zeit, Langsamkeit. Romantik ist Slow-Food.»
Über den Experten
Amel Rizvanovic ist psychologischer Berater mit Schwerpunkten in der Schema-Arbeit und positiver Psychologie. Gemeinsam mit seiner Partnerin, der Psychotherapeutin und Podcast Host Felizitas Ambauen, hat er eine Praxis im Kanton Nidwalden. Er leitet Workshops und begleitet Paare und Einzelpersonen.