Ich gehe zurück an einen bekannten Ort – den Ort, an dem Jeannine und ich uns das erste Mal getroffen haben. Ich bin in Zürich Altstetten in den Gebäuden meiner alten Berufsmaturitätsschule (BMS). Jeannine ist meine ehemalige Lehrperson für Kunstgeschichte. Sie sitzt in ihrem Klassenzimmer und empfängt mich mit einer Tasse Grüntee. Das Ganze fühlt sich etwas nostalgisch an.
Jeannine, bzw. Frau Bromundt, wie wir sie nannten, hat unserer Klasse in der BMS vieles beigebracht in puncto Kunstgeschichte. Von der Kunst in der Steinzeit bis hin zu der modernen Kunst deckte sie alle wichtigen Punkte ab. Damals wurde nur nebenbei erwähnt, dass sie selbst eine Galerie hat, welche sich auf die Kunst der Inuit spezialisiert. Eine eher unbekannte Kunstgattung – wie kommt es, dass man sich damit so intensiv auseinandersetzt?
Bei Jeannine begann dies noch in ihrer Studienzeit in den 90er Jahren. Damals war sie mit einem bekannten Galeristen aus Kanada in Kontakt, der sich mit der Kunst der Inuit auskannte. Er selbst lebte mehrere Jahre mit den Inuit aus dem Ahiarmiut-Stamm zusammen. Die junge Jeannine war schnell fasziniert – wie sie erzählt, ging selbst ein Betrag ihres Studi-Lohns drauf, um einzelne Kunstwerke zu kaufen.
Eine Faszination, die sich nicht nur auf die Kunst der Inuit begrenzte, sondern auch auf ihre Lebensweisen. Bei diversen Besuchen und Reisen in der Arktisregion konnte sie selbst bei den Inuit hausen und mit ihnen das Leben in der Kälte teilen. Somit lernte sie die Inuit und ihre Kultur aus nächster Nähe kennen.
Zwanzig Jahre nach ihrem Kanada-Besuch wurde sie beauftragt, eine Galerie zu eröffnen. Sie griff zum Telefon und kontaktierte ihren Bekannten aus Kanada – 15 Minuten später kam bereits die Antwort: Ohne zu zögern hilft er ihr dabei, die Kunstwerke für die Galerie in die Schweiz zu schaffen. Somit entstand mit einigen Umwegen schliesslich Jeannines Inuit-Galerie.
Was an der Kunst der Inuit besonders interessant ist, ist ihre Entstehung. Denn eigentlich sollten die Inuit gar keine Kunst herstellen. Die Ureinwohner der Arktis sind ein Naturvolk, welches nomadisch gelebt hat. Nomadische Völker produzieren normalerweise keine Kunst – sie ist ohne praktischen Nutzen, unhandlich und schwer.
Doch in den 1950er Jahren änderte sich etwas in Kanada. Die Regierung wollte die Inuit sesshaft machen und siedelte sie in diversen Teilen des Landes an. Dies, um die Kontrolle über die Völker zu wahren und von Bodenschätzen profitieren zu können. Von Jägern und Sammlern wurden Sie plötzlich zu einem sesshaften Volk – oder das war zumindest die Idee. Die Inuit hatten keinen Bezug zu den westlichen, oder in ihrem Fall südlichen, Lebensweisen.
Um sich den Lebensweisen des restlichen Kanadas anzupassen, mussten die Inuit nun Geld generieren. Dabei wurden die Völker von Kulturbeauftragten aus dem Süden des Landes beauftragt, Kunst zu produzieren. Das Interesse an der Inuit-Kultur war gross im restlichen Nordamerika. Jetzt wollte man den Leuten etwas geben, um diese Kultur fassbar zu machen. Man entwickelte also das Kulturgut der Inuit-Kunst – für wirtschaftliche Zwecke.
Diese Kunst genoss eine grosse Beliebtheit in Kanada und den USA – es entstanden diverse Galerien und Ausstellungen, welche die Kunstobjekte der Inuit ausstellten und verkauften. Für die Inuit selbst hatte diese Kunst lediglich den Nutzen, sich zu finanzieren. Man verkauft eine Skulptur, um sich Benzin für sein Schneemobil zu kaufen.
Die Kunstwerke entstehen vor allem aus Naturmaterialien. Es werden dabei diverse Steinarten verarbeitet, wie der etwas weichere Kalkstein oder hartes Pyoxid-Gestein, welches eine Art von Vulkanstein ist. Normalerweise werden die Kunstwerke mit Feilen oder Fräsen geformt. Oftmals wurden auch Geweihe der einheimischen Karibus verwendet, um Kunstwerke zu produzieren.
Die Inuit sind ein sehr naturverbundenes Volk. So wird auch in ihrer Kunst vor allem auf Symbole aus der Natur zurückgegriffen. Besonders beliebt sind Bären, Vögel oder Karibus. Man erkennt auch oft Motive wie Mutter-Kind-Szenen in den Kunstwerken wieder. Das Gemeinschaftsgefühl der Inuit ist gross – eine ganze Gemeinschaft wird hier als Familie betrachtet.
Ebenso ist der Bezug zur Spiritualität und dem Schamanistischen Glauben in den Werken sehr präsent. Jeder Schamane besitzt sein eigenes Schutztier, in welches er sich bei traditionellen Ritualen verwandelt. Ein besonders beliebtes Schutztier ist der Vogel, welchen man so auch oft in den Kunstwerken der Schamanen wiedererkennt. Aber auch bei den Ritualen haben die Kunstwerke keinen weiteren Nutzen, sondern erfüllen wieder rein wirtschaftliche Zwecke. Hingegen befinden sich die Inuit bei den Ritualen oftmals in einer Art Trance und begeben sich in eine spirituelle Zwischenwelt. Sie bewegen sich zwischen sichtbaren und unsichtbaren Energien und sind eng verbunden mit der Geistwelt, welche auch oft durch Monsterähnliche Gestalten in den Kunstwerken erkennbar ist. Die Inuit schöpfen ihre Inspiration vor allem aus ihrer Umgebung und ihrem Glauben. Laut Jeannine erkennt man in den Kunstwerken ihre Verbundenheit zur Natur. Sie haben eine gewisse Kraft und zeigen die bedachte Art ihrer Herstellung. Dabei erinnern die Kunstwerke oftmals an steinzeitliche Kunst.
Ihre Hochphase hatte die Kunst der Inuit vor allem zwischen den 1950er und 1990er Jahren. Vor allem die älteren Generationen produzierten und verkauften noch fleissig Kunstwerke. Doch diese Generation stirbt langsam aus und ihre Nachkommen teilen nicht mehr die gleichen Lebensweisen. Immer mehr Galerien machen ihre Pforten zu.
Jeannine beschreibt, dass sich in der Kunst der Inuit vor allem zwei Zweige gebildet haben. Auf einer Seite findet man den Souvenirmarkt: die Kunst, die für wirtschaftliche Zwecke erzeugt wird. Auf der anderen Seite findet man die Sammlerobjekte. Hier findet man die Kunstwerke, die mehr Bedeutung tragen. Es handelt sich um Einzelstücke, welche in Museen und Galerien zu finden sind und auch schon früher eine hohe Bedeutung und einen hohen finanziellen Wert hatten.
Jeannine meint, dass die Authentizität der Kunst der Inuit verloren geht, wenn sie denn jemals authentisch war. Denn kann man auf einem künstlich generierten Markt wirklich authentische Kunst vertreiben?
Doch die Frage der Authentizität hatte auf die Kunsthistorikerin keine grosse Wirkung – die Geschichte dahinter ist wichtiger und ebenso ein Teil der Inuit-Historie wie ihre Nomadenzeit. Jeannine hatte jedoch noch eine Aufgabe zu erfüllen. Der Galerist aus Kanada hatte einen Lebenstraum: Er wollte eine Ausstellung zu Ehren seines Zieh-Stammes, der Ahiarmiut, ermöglichen. Dabei wollte er ihre Geschichte und das Leid, welches der Stamm jahrelang erfahren musste, aufzeigen. Leider verstarb er, bevor er diesen Wunsch erfüllen konnte. Jeannine fühlte eine Verpflichtung, den Lebenstraum ihres Bekannten zu erfüllen. So ermöglichte sie 2017 eine Ausstellung über die Kunst der Ahiarmiut in ihrer Galerie.
Ob die Kunst der Inuit nun natürlich entstanden ist oder nicht: Durch die bewegende Geschichte der Inuit und die persönlichen Bezüge gewinnt die Kunst definitiv an einer eigenen Authentizität und Relevanz in der Kultur der Inuit in Kanada.