Die klare Sprache der zehn Erzählungen in «Cursed Bunny» (2017) vermag es, ins Mark zu treffen. Mit schlichten Sätzen webt Bora Chung die Schrecken und Gespenster, die unsere moderne Gesellschaft heimsucht, und denen wir auch in unserer realen Welt, vielleicht bewusst, vielleicht unbewusst, schon öfters begegnet sind.
Bora Chung, die 1976 in Seoul geboren wurde, ist eine südkoreanische Autorin. Heute ist sie neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und politische Aktivistin Übersetzerin und transkribiert Texte aus dem Polnischen sowie Russischen ins Koreanische. Mit «Cursed Bunny» schuf sie eine Sammlung von Kurzgeschichten, eine Anthologie von abgeschlossenen Erzählungen, die sich einem klaren Genre entziehen und ihr einzigartiges Gefühl für Sprache zur Geltung bringen. Im Jahr 2022 wurde «Cursed Bunny» mit einer Nominierung für den International Booker Prize gewürdigt.
Alle Geschichten in «Cursed Bunny» eint ihre Verbindung zum Unheimlichen sowie ihre oftmals namenlosen Protagonist:innen, die einem erlauben, deren Platz in den Erzählungen einzunehmen. Es liegt eine schlichte Eleganz in ihrer Sprache, sie ist kalt und klar in ihrem Schrecken, weicht nicht zurück vor den tiefsten, dunkelsten Abgründen. Sie offenbart in einer verstörenden Nüchternheit den oftmals ganz alltäglichen Horror sowie die einengenden Zwänge patriarchaler sowie kapitalistischer Gesellschaftsstrukturen.
«The doctor sighed her irritation out her vividly painted red lips. “If your body happens to be abnormal, a side effect from taking birth control pills for a long time can be pregnancy.” “Really? But… aren’t birth control pills made to prevent pregnancy? Her objection came out meek. The doctor’s black-and-blue gaze immediately turned sharp again. “You’re the one who overdid it with the pills – it’s your own fault. Medicine isn’t candy you can gorge on whenever you feel like it. […] You better find a father for that child, fast. If you don’t, things will really get bad for you.” » (S. 26-27, Cursed Bunny, Bora Chung, 2017)
In ihren Schilderungen sind die Erzählungen häufig schonungslos, schwanken zwischen blankem Entsetzen, Grauen, das einem einen Schauer über den Rücken laufen lässt, bis hin zu beinahe satirischen Momenten, die von einem makaberen Humor durchzogen sind. Es ist ein herrlich grauenvolles Gruseln, das doch viel zu schmerzlich an die Ängste der realen Welt erinnert.
Die Erzählungen besitzen Elemente des magischen Realismus und des Surrealismus. Sie wirken in ihrem Charakter teilweise märchenhaft, wie Legenden, die das Fantastische streifen. Sie scheuen nicht zurück vor Passagen tiefgreifenden Ekels sowie körperbezogenen Horrors, was beim Lesen sogleich eine Gänsehaut hervorruft. Der stumme Horror auf den Seiten hallt wie ein Echo der eigenen erlebten Ängste und Albträume in den Köpfen und den Gedanken der Lesenden wider.
In unterschiedlicher Weise beleuchten die Texte die Skrupellosigkeit ausbeuterischer Systeme und Gesellschaftsstrukturen. Sie beschreiben, wie das unerbittliche Verfolgen von Machtfantasien oftmals bloss Zerstörung zurücklässt, wie Profitgier und Machthunger Mensch wie Natur unterdrücken und konsumieren. Das unablässige Streben nach Macht und Reichtum verändert die Charaktere, korrumpiert diese Stück für Stück und lässt sie ohne jegliches Mitgefühl für andere zurück.
In der fabelartigen Kurzgeschichte «Snare» fängt ein Jäger eine Füchsin mit einer Schlinge. Diese fleht ihn mit menschlicher Stimme an, sie zu verschonen und freizulassen. Als der Jäger die Blutstropfen der Füchsin erblickt, stellt er zu seinem Erstaunen fest, dass ihr geronnenes Blut im Schnee zu Gold erstarrt ist. Anstatt die Füchsin gehen zu lassen, sperrt er diese in seinen Schuppen und hält sie gerade so am Leben, ihre Wunden konstant blutend und offen, um seine Gier nach Gold mit ihrem Leiden zu stillen.
«Once home, the man hid away the fox deep in his shed. He gave the fox water and food, keeping it alive. The snare was never taken off. Rather, the man would occasionally shake the snare or wound the fox again with a sharp weapon so that her injuries never healed. Whenever he did so, the fox barked or whined in resentment. But the only time she spoke like a human was when the man had first discovered her.
[…] In his shed at home was a hidden treasure nobody knew about; never again would he have to start over from nothing. […] The people around him considered the man an easy-going and hardworking fellow. […] He became known as an old hand in the art of market-selling. His credit grew as his fortune did, and the man eventually built a large house and married a beautiful woman.» (S. 92-93, Cursed Bunny, Bora Chung, 2017)
Die titelgebende Erzählung «Cursed Bunny» handelt vom Machterhalt patriarchaler Familienlinien und Firmenimperien. Wobei eine verwunschene kleine Hasenlampe Zentrum einer transgenerationalen Rache wird und nicht nur mächtige Unternehmen, sondern auch ganze Familien ins Elend zu stürzen vermag.
Ein weiterer thematischer Schwerpunkt von Bora Chungs Kurzgeschichten bilden gesellschaftliche patriarchale Kontrollmechanismen und ihre Einflüsse auf die (körperliche) Autonomie von Frauen. Ein tiefgreifender Horror liegt im Verlust der Selbstbestimmung, dem Verlust der eignen Handlungsfähigkeit. Es ist ein komplettes Ausgeliefertsein, die Zerstörung der Kontrolle über den eigenen Körper, über das eigene Schicksal. Diese Themen werden in unterschiedlichen Aspekten exploriert, beispielsweise in Form von Schönheitsidealen, alltäglichem Sexismus, verinnerlichter Misogynie, Mutterschaft, der Furcht vor dem Älterwerden, des Drucks und der Zwänge patriarchaler Traditionen und Konventionen.
Im Text «Embodiment» stellt eine junge Frau mit Schrecken fest, ohne mit jemandem geschlafen zu haben, schwanger geworden zu sein. Als sie daraufhin ihre Gynäkologin aufsucht, fragt sie diese nüchtern, was sie denn erwartet habe. Natürlich würde sie schwanger werden, sie habe die Antibabypille schliesslich länger eingenommen, als sie dies verschrieben habe. Alles, was sie nun tun könne, sei so schnell wie möglich einen Vater für das Kind zu finden, wenn sie nicht mit unvorhersehbaren Konsequenzen für ihr ungeborenes Kind und sie selbst rechnen wolle. Die Erzählung streift Themen wie die Stigmatisierung alleinerziehender Mütter, den Verlust der körperlichen Selbstbestimmung, die Zwänge traditioneller Rollenbilder und die oft mangelhafte Forschungslage hinsichtlich weiblicher Gesundheit (Gender Health Gap).
Als in der Kurzgeschichte «The Head» auf einmal ein seltsames Wesen in der Toilette auftaucht, das die Protagonistin Mutter nennt, versucht diese, den seltsamen Golem aus ihren körperlichen Hinterlassenschaften erst einmal zu ignorieren. Jedoch nimmt die Entität schleichend mehr und mehr Raum in ihrem Leben ein, wird zu einer konstanten geisterhaften Präsenz, bis sich die Identitäten der beiden langsam zu vermischen beginnen. Der Text thematisiert insbesondere die Stigmatisierung alternder weiblicher Körper, die nicht länger den Ansprüchen des männlichen Blickes bzw. male gaze genügen, nicht länger den patriarchalen Idealen ewig währender Jugend entsprechen. Es ist eine Geschichte, die sogleich an Coralie Fargeats Film «The Substance» denken lässt.
Der Schrecken, der diesen Erzählungen innewohnt, liegt mitunter in der fortwährenden Aktualität ihrer Themen. Die Wurzeln von Bora Chungs teils fantastischen teils surrealen Geschichten liegen tief in unserer Gegenwart. Sie erzeugen ein Unbehagen, das den Leser:innen vertraut ist und sie nie ganz verlässt. Erstarkende antifeministische politische Strömungen, die Ausweitung von Abtreibungsverboten, die Wahlen in den USA, das politische Auseinanderdriften junger Männer und Frauen, neue Gesetze, die die Rechte der Frauen in Afghanistan noch weiter einschränken, systematische sexualisierte Gewalt in Kriegen, der Fall von Gisèle Pélicot, der Femizid an der Olympionikin Rebecca Cheptegei, die Protestbewegung 4B-Movement in Südkorea, Hashtags wie «your body, my choice», die in den sozialen Medien kursieren: All diese Dinge und vieles mehr begleiteten einem aktuell während der Lektüre von «Cursed Bunny».
Bora Chungs Geschichten sind meist vollkommen düster. Ohne den geringsten Hoffnungsschimmer führen sie ihre Protagonist:innen ins Verderben. Dies vermag teilweise schwierig auszuhalten sein und ist hoffentlich ein zu pessimistischer Blick auf die Dinge. Allerdings vermögen ihre Texte die Verzweiflung, den Ekel, den Frust, die Wut, die einem in diesen Zeiten manchmal zu überrollen scheinen, in Worte zu fassen. So fühlen sich die Leser:innen verstanden und nicht allein. Manchmal kann es kathartisch sein, die Emotionen einfach einmal zuzulassen.
Wer gerne weitere Kurzgeschichten von Bora Chung lesen möchte, findet in «Your Utopia» (2024) eine passende nachfolgende Lektüre.