«Ich frage dich nicht, wer du nicht bist»

Wie eine Vergangenheit erzählen, die man selbst nicht erlebt hat? Wie eine Sprache dafür finden, wenn man selbst nur Gegenwart spricht, in der das Gestern jedoch beständig nachhallt? Ivna Žics «Wahrscheinliche Herkünfte» beschäftigt sich mit diesen Fragen und erträumt sich dabei ein Europa der radikalen Vielsprachigkeit.

Autor:in:
Jonas Rippstein
Hinweise:

Zürich, Zagreb, Zugehörigkeit? In «Wahrscheinliche Herkünfte» folgt die Leser:innenschaft einer namenlosen Protagonistin, die sich auf eine Spurensuche ihrer Herkünfte begibt. Dabei reist sie von der Schweiz nach Kroatien und durchquert nicht nur geografische Räume, sondern auch eigene Erinnerungslandschaften. Auf ihrem Weg kehrt sie immer wieder in die Vergangenheit zurück, um herauszufinden, warum die Gegenwart so aussieht, wie sie es heute tut. Aus dieser Suche entsteht schliesslich eine poetische Auseinandersetzung mit dem komplexen Verhältnis von Heimat, des Erzählens und der eigenen Zugehörigkeit.

Fragmentarische Identität

Im Zentrum von Žics Werk steht die Frage nach Herkunft. Die Protagonistin bewegt sich zwischen zwei Welten: Sie ist aufgewachsen in der Schweiz, hat aber familiäre Wurzeln in Kroatien, wodurch sie sowohl kulturell als auch sprachlich zwischen zwei Welten steht. Der Titel «Wahrscheinliche Herkünfte» spielt bereits darauf an, dass es auf die Fragen nach Herkunft keine klaren Antworten gibt: Die Protagonistin verortet Herkunft vielmehr in einer Zwischenwelt, in der nationale Zugehörigkeiten und sprachliche Verortungen verschwimmen. Durch den ganzen Text hindurch bleibt ihre Herkunft immer nur «wahrscheinlich», sie wird nie festgelegt, bleibt immer in Bewegung.

Dieses Immer-in-Bewegung-Sein spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie die Erzählung strukturiert ist: Wellenartig werden Fragmente erzählt, die unvorhersehbare Zeitsprünge und Ortswechsel vollziehen. In dieser fragmentierten Erzählweise wird die Zerrissenheit der Protagonistin unterstrichen. Eindrücke und Gedanken fliessen ineinander, werden zu einer unverlässlichen Gegenwart, die nur «wahrscheinlich» sein kann.

Sprache als Zersplitterung

Ebenfalls zentral ist die Frage nach der Rolle der Sprache. Die Protagonistin lebt in einem mehrsprachigen Umfeld, in dem sowohl Deutsch als auch Kroatisch gesprochen wird. Sie fühlt sich jedoch in keiner dieser Sprachen wirklich zu Hause, vielmehr fühlt sie sich entfremdet. Dieses Gefühl bekommt Ausdruck in Žics Überlegungen zum Übersetzen: Immer wieder kommt die Frage auf, was beim Übergang eines Wortes von der einen in die andere Sprache verloren geht. Die Wörter scheinen dabei ihren festen Halt zu verlieren, Bedeutungen werden fluide, kommen in Bewegung.

Die Protagonistin beschreibt zudem intensiv die Erfahrung des Aufwachsens zwischen mehreren Sprachen und Kulturen. Das Sprechen, das eigentlich als Brücke zwischen den Welten dienen könnte, wird teilweise zu einem weiteren Ausdruck der Zersplitterung. Es verbindet nicht, sondern verstärkt das Gefühl, nirgends wirklich dazuzugehören. In diesem Kontext wird Sprache abermals zu einer Metapher für Identität: So wie die Wörter ihre Bedeutung im Pendeln zwischen den Sprachen verlieren, verliert auch sie etwas im Pendeln zwischen ihren kulturellen Wurzeln.

Der Schatten der Vergangenheit

Auf der Spurensuche der Protagonistin schwingen auch immer wieder historische Ereignisse wie der Balkankrieg unterschwellig mit. Die Erinnerungen an die Kriegsjahre, die Flucht der Familie aus dem zerfallenden Jugoslawien und die daraus resultierenden Traumata sind allgegenwärtig, auch wenn sie selten direkt angesprochen werden. Sie sind eher ein leises Rauschen, das manchmal zwischen den Zeilen zu hören ist. Nur bruchstückhaft kommen die Erinnerungen hoch, zum Beispiel wenn der Grossvater Geschichten von Zagreb in der Kriegszeit erzählt oder wenn die Erzählerin an die Eltern denkt, die versuchten, in der Fremde Fuss zu fassen.

Der Krieg flüstert immer leise im Hintergrund der Erzählung. Die Protagonistin schlussfolgert, dass ihre Herkunft auch immer mit dem Verlust einer Heimat und dem Gefühl des Fremdseins verbunden bleibt. Der Krieg hat die familiäre Vergangenheit geprägt, und sie trägt sie nun in der Gegenwart weiter mit sich. Für sie ist die Reise nach Zagreb nicht nur eine Rückkehr in die Stadt ihrer Kindheit, sondern auch eine Konfrontation mit der Last, die sie auf ihren eigenen Schultern trägt – mit der Vergangenheit.

In «Wahrscheinliche Herkünfte» erkundet Ivna Žic eindrücklich sprachliche und geschichtliche Räume. Ihr gelingt es, die familiäre Vergangenheit mit einem grösseren Kontext zu verweben, um sich dabei zu verorten – historisch, sprachlich, emotional. Zusammen mit dem fragmentarischen Aufbau des Werkes sowie der (mehr-)sprachlichen Feinheiten kreiert die Autorin einen sprachmächtigen Text, der besonders im Heute laut gelesen werden sollte: In einer Zeit, in der Europa immer mehr in Richtung Intoleranz rutscht, ist es umso wichtiger, sich darauf zu besinnen, dass wir alle komplexe Herkunftsgeschichten mit uns tragen und unsere Identität immer nur eine Wahrscheinlichkeit bleibt – und keineswegs ein- und/oder ausschliesst.

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