Dachkantentaumel

Hengameh Yaghoobifarahs neuster Roman «Schwindel» ist eine intensive Auseinandersetzung mit Sexualität und Identität sowie funkelnde Pop-Literatur par excellence. Die Schwindelnden sind jene, die nicht in starre Muster fallen und die sich unfreiwillig zwischen gesellschaftlichen Rastern hin- und herbewegen. «Schwindel» liest sich als hedonistisches Fest mit stets ersichtlichen Abgründen, dessen vielzählige Erzählstränge auf ein tragisches Ende mit tiefer Fallhöhe zusteuern.

Autor:in:
Jonas Rippstein
Hinweise:

Ava lebt in einem Hochhaus in einer Grossstadt. Sie möchte nichts Festes und hat vor allem Bock, ihrer Lust auf queeren Sex und auf Drogen nachzugehen. An einem Freitagabend datet sie Robin. Alles läuft gut, bis es klingelt und unverhofft zwei Gäste dazustossen: Delia kommt vorbei, um deren Handy abzuholen, das dey in Avas Schlafzimmer liegen gelassen hat. Silvia steht vor der Tür, um Ava zur Rede zu stellen, weil sie von ihr seit kurzem geghostet wird. Die drei Liebhaber:innen treffen auf dem Gang aufeinander, was bei Ava in kompletter Überforderung mündet. Sie ergreift die Flucht aufs Dach. In der ganzen Aufregung nimmt keine:r von ihnen weder einen Schlüssel noch ein Handy mit. Die Tür hinter ihnen fällt zu; und die vier stecken auf dem Hochhausdach fest.

Während des Feststeckens lernen die Leser:innen die Liebschaften Avas kennen: Robin ist in einer offenen Beziehung mit einem trans*-Mann. Silvia, die wesentlich älter ist als Ava, möchte sich nochmals jung fühlen und die Leidenschaft mit ihr spüren. Delia ist trans* und findet den Sex mit Ava grossartig. Mithilfe von Retrospektiven zoomt der Text immer wieder zwischen den Gesprächen der Vieren auf dem Dach und der Vergangenheit hin und her. Die drei Liebhaber:innen und ihre Geschichten repräsentieren dabei in Teilen die queere Community. In ihren Auseinandersetzungen, die meist in Streit enden, werden Konfliktpunkte untereinander sichtbar, die sich teils komödiantisch, teils dramatisch immer weiter zuspitzen.  

Intimität und Distanz

«Schwindel» entpuppt sich während der Lektüre jedoch keineswegs als plumpe queere Rom-Com, sondern als eine vielschichtige Beobachtung der (sexuellen) Beziehungen unserer Zeit. Der Text befragt diesbezüglich besonders das Verhältnis von Intimität und Identität: «Was für eine Vorstellung von Intimität soll das sein, wenn man permanent damit beschäftigt ist, die am leichtesten verdauliche Version seines Selbst zu servieren, statt einfach zu sein, wer man wirklich ist?» Diese Frage hallt durch alle vier Figuren im Text wider; und sie wird im Laufe der Erzählung immer wieder aufgegriffen und auf die Probe gestellt.

Doch was ist Begehren in einer Gesellschaft, in der Identitäten ständig verhandelt werden müssen? «Schwindel» stellt die Frage, ob Lust jemals nur körperlich sein kann oder ob sie immer mit dem eigenen Selbstbild verknüpft ist. Ava will sich nicht festlegen, doch jede Begegnung mit Robin, Delia und Silvia fordert sie heraus, ihre Grenzen neu zu ziehen. Ihre Körper finden sich immer wieder, stossen sich ab, begehren einander, verlieren sich im Rausch und kehren zur Ungewissheit zurück. In diesem Buch ist Begehren nicht bloss eine Triebkraft, sondern ein Ort der Konfrontation: mit Erwartungen, mit Machtstrukturen, mit der Angst vor Nähe und dem eigenen Spiegelbild.

Alles zerlegen, was uns zu Gefangenen macht

Die Reflexion über das Selbst in Beziehungen ist im Laufe der Erzählung am intensivsten bei Delia zu spüren. Beim Lesen wird deren Zerrissenheit gegenüber deren «wahren Ich» besonders ersichtlich, in einer leichten, poetischen Sprache: «das problem, wenn man sich durch eine andere person erst / erfährt / erkennt / kennenlernt / herausfindet / wer man ist / ist dass / wenn die person weg ist / man sich fragt / wer man eigentlich ist / und ob / man je da war.» Dey fasst schliesslich treffend zusammen, worum es in «Schwindel» für alle Figuren vordergründig geht: «es gilt die sprache zu demolieren. das geschlecht zu demolieren. die mauer der gefängnisse zu demolieren. alles zu zerlegen, was uns zu gefangenen macht. alles muss raus. es gibt viel zu tun.»

«Schwindel» hat so einiges zu bieten; es ist ein hedonistisches Fest der Lust, eine multiperspektivische Bühne der Sehnsucht, eine eigenwillige Rom-Com mit tragischem Ende und eine schrille, laute Gegenwartsbeobachtung. Obschon sich der neuste Roman von Hengameh Yaghoobifarah viel vornimmt, gelingt es ihm, sich auf eine eigenwillig poetische und kurzweilige Art mit den Schwindelnden und jenen, die ihnen Halt geben, auseinanderzusetzen. Ein Spektakel der Gefühle, in dem die Figuren «[d]em Himmel so nah wie noch nie und trotzdem gefangen in der Hölle» sind, im wahrsten Sinn der Worte.

Verlosung

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