Um in die Ausstellung zu gelangen, gehen Besucher:innen zwischen zwei nackten Personen in einem Türrahmen hindurch. Eine Nachstellung des Werkes «Imponderabilia». Mein Gedanke: Möglichst nicht an einer Person ankommen – ich will nicht übergriffig sein. Dann wird die Intention klar: Besuchende direkt in die Welt der Performance Künstlerin bringen und die Gefühlslage legen.
Danach geht es chronologisch weiter. Von Raum zu Raum werden die Performancekunstwerke kategorisiert abgebildet. Das mittels Videoaufnahmen, Fotografie, Ton und Text. Wiedergegeben werden ihre berühmtesten Werke, aber auch die neuen Skulpturen und Ideen.
Die Kontrolle über den eigenen Körper abgeben
Bekannt wurde Marina Abramović vor allem durch ihre Performance «Rhythm 0» (1974). Die Künstlerin stand sechs Stunden regungslos an Ort und Stelle. Vor ihr ein Tisch mit weissem Tischtuch. Auf dem Tisch 72 Objekte: Federn, Pistole, Messer, Schuhe, Nahrungsmittel, Axt. Die Anweisung ans Publikum war einfach: «Auf dem Tisch liegen 72 Gegenstände, die man nach Belieben auf mich anwenden kann (…) Ich bin das Objekt (...) Während dieser Zeit übernehme ich die volle Verantwortung.» Abramović beschreibt die Erfahrung in ihrem Buch «Durch Mauern gehen». Besucher:innen des Studio Morra in Neapel hätten ihre Kleidung aufgeschnitten, Dornen
in ihr Bauch gesteckt und eine Person habe eine geladene Pistole an ihren Kopf gehalten – eine andere habe diese wieder aus der Hand genommen. Am Ende der Performance seien alle Besucher:innen weggerannt, um der Konfrontation von Abramović auszuweichen.
«Ich wurde für sie zum Spiegel ihrer eigenen Gefühle.»
Die Interaktion mit dem Publikum findet man in vielen Werken der Künstlerin wieder. Das wohl bekannteste Beispiel ist 2010 in New York entstanden. Während drei Monaten sass Marina Abramović täglich sieben Stunden im Museum of Modern Art (MoMA) auf einem Stuhl. Besucher:innen wurden eingeladen, für unbestimmte Zeit ihr schweigend vis à vis zu sitzen und direkt in die Augen zu schauen. Mehr als 1’500 Menschen sassen ihr während der Zeit gegenüber.
Abramović sagt gegenüber «The Guardian» im Interview: «Ich wurde für sie zum Spiegel ihrer eigenen Gefühle». Sie sei noch Monate nach Ende der Performance erschöpft gewesen und für die Vorbereitungen sei sie einem Trainingsprogramm der NASA gefolgt.
Interaktive Objekte anstelle von Körperperformances
Heute performt die 77-jährige Künstlerin nicht mehr selbst. Der Fokus ihrer Kunst hat sich verändert. Während das Werkzeug der Künstlerin lange Zeit ihr eigener Körper war, produziert sie heute sogenannte «Transitory Objects». Diese beschreibt sie als Objekte «um physische oder psychische Erfahrungen im Publikum durch direkte Interaktion auszulösen. Sobald die Erfahrung erlangt ist, können die Objekte entfernt werden».
Die ersten «Transitory Objects» sind Anfang der 1990er Jahre entstanden. In «The Lovers, The Great Wall Walk» (1988) marschierten Marina Abramović und ihr Partner und Performer Ulay 90 Tage von entgegengesetzten Enden die Chinesische Mauer entlang, um sich in der Mitte zu treffen.
Nach Ende dieser Performance entwickelte die Künstlerin «Transitory Objects», welche Kristalle und Mineralien einbeziehen. Das Ziel dabei ist, ihre Erfahrungen mit dem Publikum zu teilen. Daraus entstanden interaktive Skulpturen wie «inner Sky» und «Black Dragon», welche zum Entdecken im Kunsthaus anzutreffen sind.
Meine Gefühlslage am Ende der Ausstellung: beeindruckt und bedrückt zugleich. Beeindruckt von Abramovićs Leistung, jemanden Dinge fühlen zu lassen, die noch nie zuvor gefühlt worden sind. Bedrückt, weil mich noch nie eine Exhibition so sehr zum Nachdenken und Staunen aber auch zum Ekeln gebracht hat.
Werke wie Rhytm 0, The Artist is Present und viele mehr sind bis am 16. Februar 2025 im Kunsthaus Zürich und in der Wasserkirche Zürich (bis 05. Januar 2025) zu betrachten. Es empfiehlt sich im Voraus ein Online-Ticket zu kaufen. Tickets kosten mit reduziertem Tarif 22 CHF und mit Normaltarif 31 CHF.
Triggerwarnung: Wer empfindlich auf Blut und körperliche Schmerzen, Tod oder andauernde Töne reagiert, sollte lieber eine andere Ausstellung des Kunsthauses oder eines anderen Museums besuchen.