Am eisig kalten Dienstagabend zieht ein fieser Wind durch das Zürcher Quartier Hottingen. In einem von der Strasse zurückversetzten Mehrfamilienhaus hingegen wird behaglich geheizt. Der Schweizer Musikpionier Bruno Spoerri wohnt hier mit seiner Frau und begrüsst uns herzlich, als wir die letzten Treppenstufen zu deren Wohnung bewältigen. Seit mehr als einem dreivierteljahrhundert befasst er sich in jeglicher Hinsicht mit Musik – und hat dabei Ausserordentliches erschaffen.
Eine stilvoll eingerichtete Wohnung erwartet uns, wir setzen uns auf einen gelben Sessel in seinem Büro neben dem Wohnzimmer. Bruno Spoerri setzt sich an den Bürotisch. An der Wand rechts eine grosse Musiksammlung, ansonsten jederlei Krimskrams und Erinnerungen in verschiedenen Farben und Formen. Im ehemals besetzten Haus, wie er uns erzählt, merkt man, dass hier bis heute täglich Aktivismus und Kreativität auf dem Programm stehen.
frachtwerk: Bruno Spoerri, wer sitzt mir gegenüber und wo genau sind wir hier?
Bruno Spoerri: An der Freiestrasse in Zürich in meinem Büro. Hier und in meinem nahegelegenen Studio arbeite ich fast täglich. Wie soll ich sagen: Ich bin Alt-Filmkomponist, Alt-Lehrer, Alt-Archivar und so. Bei mir ist vieles alt, ich bin fast 90.
frachtwerk: Du warst ein Leben lang treibende Kraft im modernen Jazz, in der Filmmusik und der elektronischen Musik. Kann sich jemand wie du alt fühlen mit all den Sachen, die er ein Leben lang gemacht hat?
Bruno Spoerri: Zum Teil schon, ja. Ich merke langsam, dass alles mühsamer wird. Und ich mache nur noch das, was mir Spass macht. Zum Beispiel habe ich begonnen mit viel jüngeren Musiker:innen zu spielen. Ich gebe auch nicht mehr so viel darauf, dass alles immer funktionieren muss.
frachtwerk: Du bist jetzt 89 und beschäftigst dich seit bald 80 Jahren mit Instrumenten. Du giltst für viele als ein Pionier einer ganzen Musik-Generation. Kannst du dich noch daran erinnern, wie es dich ganz am Anfang in die Musik verschlagen hat? Schliesslich wolltest du eigentlich Psychoanalytiker werden.
Bruno Spoerri: Erstmal muss ich sagen: Pionier ist man nicht. Das wird man höchstens nachträglich, wenn man plötzlich mit Schrecken bemerkt, was man in den vergangenen Jahrzehnten alles gemacht hat. Zu deiner Frage: Zur Musik bin ich gekommen, weil meine Mutter Musikerin war. Mein Vater war Elektroingenieur. Vom Klavierspiel, das mir verdorben wurde, kam ich durch ein paar Basler Freunde zum Jazz. Da war ich noch ein Teenager. Mir wurde die Funktion des Hawaii-Gitarristen zugeteilt, wobei ich nach ein paar Monaten merkte, dass das ein völliger Blödsinn ist. Niemand spielt Hawaii-Gitarre in einer Jazz-Band (lacht).
Bald schon flog ich aus dem Gymnasium und lernte während zwei Jahren im Internat in Davos einigermassen Saxofon zu spielen. Und so wurde Jazz zum Wichtigsten in meinem Leben. Als Psychologe habe ich noch ein paar Jahre gearbeitet. Der Psychoanalytiker, der ich mal werden wollte, bin ich aber nie geworden.
Durch den Pianisten in einer Band, in der ich damals spielte und der in einer Werbeagentur arbeitete, kam ich auf einmal zum komischen Auftrag, einen Film zu vertonen. So bin ich zum ersten Mal in der Filmmusik gelandet. Die Aufträge wurden schnell immer mehr, ich kam zum Radio und begann, Musik für Hörspiele zu machen. Das machte mir Spass. Und so entwickelte sich das immer weiter. Ich bin beim Aufkommen der Werbefilme komplett in diese Welt eingetaucht. Das Lustige war: Wir alle hatten keine Ahnung, wie man TV-Spots produziert. Trotzdem haben wir für alle grossen Firmen der Schweiz Werbespots gemacht und nebenbei noch einige Experimentalfilme produziert.
frachtwerk: Wie lernt man etwas, das es noch gar nicht gibt?
Bruno Spoerri: Das war am Anfang alles ziemlich herausfordernd. Ich musste innert weniger Wochen lernen, mich in einem modernen Tonstudio und mit neuen Technologien zurechtzufinden. Also ging ich in eine Filmbuchhandlung in Zürich, wo ich alle Bücher, die ansatzweise mit dieser Materie zu tun hatten, kaufte. Bis heute lerne ich immer wieder dazu.
frachtwerk: Das Kennenlernen von neuen Sachen begleitet dich bis heute. Du programmierst aktuell neue Instrumente, die auf Bewegungen reagieren und vieles mehr. Ist es die uneingeschränkte Experimentierfreudigkeit, die dich hierhin brachte, wo du heute bist? Warst du dir damals bewusst, dass du mit deinem Ehrgeiz eine Vorreiterrolle übernehmen würdest?
Bruno Spoerri: Nein, nicht wirklich. Ich konnte mich bloss entscheiden: Schwimmen oder versaufen?
frachtwerk: Und du hast dich fürs Schwimmen entschieden.
Bruno Spoerri: Ja. Ich fand, dass ich nicht einfach untergehen möchte. Ich habe alles gemacht, was ich konnte. Und teilweise ist mir das gar nicht so schlecht gelungen. Und natürlich hatte ich auch eine Familie, für die ich Geld verdienen musste.
frachtwerk: Hast du das Gefühl, dass du mit deinem avantgardistischen Schaffen viele deiner Zeitzeug:innen aufs Glatteis geführt hast?
Bruno Spoerri: Auf eine gewisse Art und Weise schon. Was sicher ist: Ich habe eine ziemlich lange Zeit selbst auf dem Glatteis gestanden. Und ja, es passierte schon regelmässig, dass man meinte, ich mache doch unmögliche Musik. Als ich als Schüler am Gymnasium Jazz spielte, war ich für die Lehrer etwa so daneben wie später ein Punker. Und dann habe ich begonnen, Filmmusik zu machen. Das war verpönt. Anständige Komponisten schrieben keine Filmmusik. Durch die ganze Technik bin ich dann natürlich auch schnell in die elektronische Musik reingeraten.
frachtwerk: Und da warst du einer der ersten, nicht wahr?
Bruno Spoerri: Mich hat das sehr schnell zu interessieren begonnen. Ich habe schon bevor es die ersten Synthesizer gab, die ersten elektronischen Sachen produziert. Und da war es genau dasselbe. Die Leute haben das gehasst. Diese neue Musik war eigentlich verboten. Das hat man nicht gemacht. Nochmals etwas später, als ich begonnen hatte, mit Computern zu hantieren, ist mir nochmals genau dasselbe passiert.
frachtwerk: Was hat diese scharfe Kritik, die du jedes Mal, wenn du dich Unbekanntem annähertest, mit dir gemacht?
Bruno Spoerri: Eigentlich nicht so viel. Ich wollte das einfach unbedingt machen. Ich bin gar nie dazu gekommen, mir zu überlegen, ob ich diese Position möchte oder nicht. Ich war total beschäftigt mit den Projekten.
frachtwerk: Also würdest du sagen, dass diese «Provokation» keine aktive Entscheidung von dir war, sondern eher eine Konsequenz aus deinem Handeln?
Bruno Spoerri: Es war ganz klar die Konsequenz meines Handelns. Ich habe schon mit grossem Eifer dafür propagiert. Ich habe mich aber auch auf alles eingelassen. Und so lief auch immer mal wieder etwas ganz schön schief. Zum Beispiel habe ich mal eine elektronische Einleitung für ein klassisches Ballett am Opernhaus in Zürich gemacht. Das kam nicht gut an und endete in einer absoluten Katastrophe.
frachtwerk: Wer waren denn die Leute, die dich überhaupt nicht verstehen konnten?
Bruno Spoerri: Als ich begonnen hatte, Jazz mit Synthesizern zu mixen, haben mich viele Jazzer als Verräter der Musik gesehen.
frachtwerk: Was hast du darauf erwidert?
Bruno Spoerri: Wir waren ja eine ganze Gruppe, ja eine kleine Bewegung, die sich für diese neuen Formen interessierte. Es war damals schon genau derselbe Kampf: Die Traditionellen gegen die Jungen.
frachtwerk: Wie reagierst du heute selbst auf neue Musik?
Bruno Spoerri: Ich hatte bei deren Aufkommen einen Widerwillen gegenüber Rappern. Ich fand, dass sie keine Musik machen, sondern Wortkunst, allerdings oft wundervoll. Mittlerweile sehe ich das anders und bringe nun bald mit einem Rapper neue Musik heraus.
frachtwerk: Du bringst jetzt noch Musik mit einem Rapper raus?
Bruno Spoerri: Ja! (lacht)
frachtwerk: Kannst du mir sagen, mit wem?
Bruno Spoerri: Mit Knackeboul. Ich habe mit ihm zusammen Musik gemacht. Ich finde, er macht alles andere als langweilige Musik. Das ist mir wichtig. Unsere gemeinsame Produktion kommt im Frühjahr raus.
frachtwerk: Also befindet sich Bruno Spoerri auch mit 89 noch in stetigem Wandel?
Bruno Spoerri: Ja, auf jeden Fall. Ich finde es unheimlich wichtig, Mut für Neues zu zeigen.
frachtwerk: Deine Lebenseinstellung?
Bruno Spoerri: Vielleicht ein bisschen, ja. (schmunzelt)
frachtwerk: Lass uns noch einmal etwas in die Vergangenheit abtauchen: Du hast früh mit Synthesizern zu arbeiten begonnen, ebenso mit Computern, und hast das Institut für Computermusik mitgegründet. Du warst also weit vorne mit dabei. Haben die neuen Möglichkeiten durch technologische Fortschritte dein kreatives Potenzial erweitert?
Bruno Spoerri: Ganz sicher. Ich bin lange immer sofort voll eingestiegen auf Neues, weil mich die vielen Möglichkeiten der neuen Technologien interessierten. An gewissen Stellen war ich aber auch kritisch. Beispielsweise bei der Einführung der MIDI-Technik habe ich für mich gedacht, dass es sich dabei um einen Rückschritt handle. Aber ich habe mich Gott sei Dank immer weiterentwickelt und bin an die richtigen Menschen geraten, mit denen ich viel gemacht und entwickelt habe. In den 70er- und 80er-Jahren war diese Musik eine kleine Nische mit sehr wenigen Menschen, die in ihr arbeiteten. So hat es mich sehr früh nach Amerika verschlagen, wo ich an Leute wie Don Buchla, Wendy Carlos und Robert Moog geraten bin.
frachtwerk: Dein Fokus war also aufgrund der schmalen Verbreitung der neuen Szene bald nach Amerika gerichtet?
Bruno Spoerri: Ich fand die deutschen Elektroniker viel weniger spannend. Ich darf es fast nicht sagen, aber als beispielsweise Kraftwerk aufkam, fand ich, dass ihre Musik nach meinen Synthesizern klingt, wenn ich sie am Morgen anstelle und einpegle. Ich fand das alles wahnsinnig primitiv.
frachtwerk: Warst du dir damals bewusst, dass du ein Teil der Wegbereiter für eine grosse Musikentwicklung bist?
Bruno Spoerri: Es war vor allem einfach unheimlich spannend. Und es gab schon einzelne Momente, die man mit wirklich grossen Namen aus dieser Welt verbrachte, die einen schaudern liessen. Da habe ich immer mal wieder fast einen Herzschlag erlitten. Es war häufig einfach unglaublich. Wir haben uns alle gemeinsam gebildet, unterstützt, miteinander geforscht und musiziert. Und aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass ich das Gefühl habe, es gebe sowas heute nicht mehr.
frachtwerk: Du würdest also sagen, dass eine solche Pionierarbeit, wie ihr sie damals vor 30 oder 40 Jahren geleistet habt, heute gar nicht mehr verrichtet werden könnte?
Bruno Spoerri: Ja, das denke ich. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil es alles schon gibt. Und weil man heute ganz anders lernt. Fast alles ist irgendwo verschriftlicht und man kann es systematisch lernen. Klar kann man auch heute sehr gute Musik machen und viel experimentieren. Doch der Rahmen ist irgendwie enger gesetzt.
frachtwerk: Gab es nicht auch früher immer wieder die Ansicht, dass es alles schon gibt, und dann kam doch wieder etwas Neues?
Bruno Spoerri: Nein, überhaupt nicht. Wir sind immer wieder auf ganz Neues gestossen, und wenn wir andere Leute besuchten, lernten wir Menschen kennen, die wieder etwas komplett anderes machten oder dasselbe ganz anders angingen. Wir dachten uns oft: «Was ist das denn bloss?», «Warum bin ich nicht auf das gekommen?» und «Das ist ja irrsinnig was der macht!» So war das eben. Heute hat Experimentieren oft ein wenig das Ursprüngliche verloren.
frachtwerk: In der Musik ist vielleicht manchmal der Mensch dahinter etwas weniger zu spüren als zu früheren Zeiten. Überrascht sie dadurch aber weniger?
Bruno Spoerri: Also, es ist wahnsinnig viel schwieriger geworden, etwas Neues zu machen. Ich finde, es ist schwieriger, aus Schemen auszubrechen. Und auch finanziell gesehen: Man bekommt für seine Musik nur noch Geld, wenn man etwas Aussergewöhnliches tut. Und ebendies ist so schwierig geworden.
frachtwerk: Aber Musikmachen und Musikhören ist doch nicht weniger spannend geworden, oder?
Bruno Spoerri: Nein, auf keinen Fall. Es ist sogar extrem reizvoll. Aber es ist auf jeden Fall schwieriger denn je, von der Musik zu leben. Man musste schon immer viel arbeiten, um vom Musikmachen leben zu können, aber die Umstände für eine solide Grundlage sind nicht einfacher und so viel schnelllebiger geworden. Faktoren wie Anzahl Musizierende und Konsumverhalten befeuern diese Schwierigkeit immens.
frachtwerk: Du als alter Herausforderer und Innovator müsstest ja aber eigentlich einen Reiz an neuen Umständen finden können. Wie wäre es, wenn dein nächster Schritt Musizieren mit KI wäre?
Bruno Spoerri: Die KI sehe ich durchaus als Chance. Man kann einer KI den Auftrag geben, Musik zu einem Landschaftsbild oder zu einer Szene zu erstellen. Aber rein vom kommerziellen Standpunkt her sehe ich hier immense Herausforderungen. Wem verkaufst du dies? Und wer verkauft die Musik? Wer bezahlt also wen dafür, dass ein Gerät «kreativ» ist? Man könnte fast meinen, der Job eines Musikers könnte weitgehend ersetzt werden. Diese Fragen beschäftigen auch uns Musiker und sie werden kommende Generationen natürlich noch lange umtreiben.
frachtwerk: Es klingt so, als sei auf der einen Seite das Musizieren so einfach – man könnte mit böser Zunge auch banal sagen – wie noch nie. Die Umstände hingegen sind sehr viel komplexer geworden. Was macht also die spannende, überraschende Musik der Zukunft noch aus?
Bruno Spoerri: Das ist sehr schwierig. Was sicher immer funktionieren wird, sind die kleinen Szenen. Menschen, die es hinbekommen, an Orten aufzutreten, wo vielleicht 50 Personen im Raum sind, die mit Freude dafür bezahlen, um ein gutes Konzert zu hören, und die einen persönlichen Kontakt mit der Musik haben möchten. Menschen, die sich in einer Szene behaupten können und eine Tournee machen, um eine beschränkte Anzahl von Leuten zu beglücken, werden musikalisch überleben. Und das darf auch auf einer grossen Bühne mal funktionieren.
Und dann gibt es natürlich noch die «Big Names» wie neulich Taylor Swift, die einen gigantischen kommerziellen Erfolg verzeichnen. Aber das sind die wenigen Ausnahmen, und in meiner Perspektive geht es dabei auch nicht mehr um die individuelle Musikerin, sondern um eine Firma.
frachtwerk: Wenn Taylor Swift mit Musik Erfolg hat, kann meiner Ansicht nach der Grund für den Erfolg aber nicht Spannung und Innovation im musikalischen Schaffen sein. Ist es also doch eher das Menschliche, das hinter der erfolgreichen und wertvollen Musik steckt?
Bruno Spoerri: Ich denke ja. Es sind die mutigen Menschen, die weitergehen und sich auch weiter trauen, als bei dem zu bleiben, was ihnen beigebracht wurde. Diese Faszination begleitete mich ein Leben lang.
frachtwerk: Vielen Dank für deine Zeit, welche du dir für unser Gespräch genommen hast.