«Ich hoffe, dass unsere Freude nicht von Sirenen unterbrochen wird» – ein Festivalbesuch in Lviv

Zorepad ist mehr als nur ein Festival, das nahe des Kriegsgebiets stattfindet. Es ist genau das, was viele junge Ukrainer:innen jetzt brauchen: Normalität und ein Gefühl von Gemeinschaft. frachtwerk hat das Festival besucht und mit seinen Macher:innen über dieses aussergewöhnliche Ereignis gesprochen.

Autor:in:
Sonya Kaminska
Titelbild:
z.V.g.

Die Musikszene ist nicht gerade das Erste, was einem in den Sinn kommt, wenn man an ein Kriegsgebiet denkt. Die Bilder, die uns erreichen, konzentrieren sich auf die Opfer, auf militärische Anschläge und andere Tragödien. Doch zwei Jahre nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine geht das kulturelle Leben auch nachts weiter, auch wenn sich die Umstände und die Bedeutung von Clubbing und Festivals verändert haben.

In den letzten zehn Jahren hat sich die Ukraine zu einem kulturellen Schatz entwickelt, der für seine lebendigen Underground-Szenen bekannt ist, in denen dynamische Musik- und Kunstsubkulturen gedeihen, die östlichen und westlichen Einflüsse vermischen und gleichzeitig eine neue, in der komplexen Geschichte des Landes verwurzelte Zukunft gestalten.

Ein Festival mitten im Krieg

Mitte August dieses Jahres fand zum zweiten Mal das von Night Ambassadors organisierte Open-Air-Festival Zorepad im Dorf Dubrovytsia in der ukrainischen Region Lviv statt. Am zweitägigen Programm nahmen 21 Musiker:innen aus der elektronischen Musikszene teil, darunter zwei ausländische Gäste: der Brite Alec Falconer und der Georgier Hatsvali.

Sonya Kaminska berichtet:

Am Morgen nach der Samstagnacht auf dem Zorepad-Festival (ukrainisch für «Meteoritenschauer») sitze ich auf einem Zeltplatz im Schatten von Bäumen, umgeben von neuen Freund:innen, die immer wieder in den Schlaf fallen. Das Festival, das die letzen Tage 30 Kilometer von Lviv entfernt in einem 50 Jahre alten Erholungszentrum stattfand, war mehr als nur eine weitere Veranstaltung. Es war ein kraftvoller Ort, vor allem in Anbetracht der Zeiten, die wir als Ukrainer:innen durchleben.

Während ich neben jemandem, den ich erst am Vortag kennengelernt hatte, Kaffee schlürfe, erscheint ein kleines Filmteam. Sie dokumentieren die «jugendliche Rave-Kultur während des Krieges» und als sie zu interviewen beginnen, komme ich mir etwas komisch vor. Jede Frage dreht sich um das Thema «Raves». Doch was wir in den vergangenen Stunden erlebt haben, schien etwas anderes und viel mehr zu sein und zu bedeuten.

Welche Bedeutung hat Kultur während dunklen Zeiten?

Als ich dies dem Regisseur gegenüber erwähne, nicken die anderen um mich herum zustimmend. Wir beginnen darüber zu diskutieren, wie sich unsere Kultur, insbesondere vor dem Hintergrund des andauernden Krieges in der Ukraine, über die typischen Definitionen eines Raves hinaus entwickelt hat. Bei dem Festival ging es nicht nur um die Musik oder die Lichter - es ging um Gemeinschaft, Solidarität und eine gemeinsame Erfahrung, die über diese Begriffe hinausgeht.

Dieser Moment lässt mich darüber nachdenken, wie sich unsere Jugendkultur seit Februar 2022 verändert hat und was ein Festival wie Zorepad in dieser neuen Realität auszeichnet. Entstanden ist ein aufwühlendes Gespräch mit Chady Zoratly, Leiter des Festivals und Darko Lisen, Kommunikationsverantwortlicher und Booker von Zorepad. Mit dabei waren auch die drei Festivalbesucherinnen Mariya Kanitska, Sophie Pelekh und Anna (Name geändert), die lieber anonym bleiben möchte.  

frachtwerk: Was ist das Zorepad für euch?

Chady Zoratly: Ein Musik- und Kunstfestival im Freien, das stattfindet, wenn die Sterne fallen.

Darko Lisen: Ein Festival für elektronische Musik in der Region Lviv.

Sophie Pelekh: Ein Nischenfestival für elektronische Musik.

Mariya Kanitska: Musik, Ort der Begegnung, Natur, Nacht.

Anna (anonym): Eine Flucht vor der Realität.

Sophie Pelekh (Bild: z.V.g.)

frachtwerk: Wie ist die Idee für Zorepad entstanden?

Chady Zoratly: Die Motivation war eine Zusammenarbeit mit Freund:innen aus dem Ausland, die in der internationale Musikszene arbeiten. Letztes Jahr konnten sie aus Mangel an Ressourcen und aus Angst, in die Ukraine zu reisen, nicht hierherkommen, also habe ich die Herausforderung selbst angenommen.

Darko Lisen: Das Partyprogramm 2023 war nicht so vollgepackt wie 2021, und deshalb haben wir darüber nachzudenken begonnen, etwas eigenes aufzubauen. Ausserdem wollten wir wegen der Ausgangssperre im Sommer nach draußen gehen und uns an der frischen Luft bewegen. (Anm. d. R.: Während der Ausgangssperre ist es den Bürgern aufgrund von Kriegseinschränkungen verboten, sich im Freien und auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten.)

frachtwerk: Was mögt ihr während des Festes am liebsten?

Mariya Kanitska: Der Moment, in dem ich ankomme und die Leute umarmen, begrüssen und sehen kann, die ich lange nicht gesehen habe. Das Gefühl der Sicherheit, von der Natur geschützt und von Freunden umgeben zu sein. Wenn du tanzt, während die Sonne untergeht, und du den Kopf drehst, um einen Fremden zu sehen, der dich anlächelt.

Anna: Für mich ist die Zonierung des Raums der Schlüssel - die Möglichkeit zu wählen, was man erleben möchte. Ob man sich zur Musik bewegt und seinen Körper beim Tanzen spürt, die gemütliche Atmosphäre des Tee- und Vinylbereichs geniesst oder die waldähnliche Intimität des mit Hängematten bestückten Campingplatzes. Diese Freiheit, nach Lust und Laune zu wählen, ist mein Lieblingselement.

Darko Lisen (Bild: z.V.g.)

frachtwerk: Wie seht ihr die Rolle von Festivals wie Zorepad in der aktuellen ukrainischen Kulturlandschaft?

Darko Lisen: Es spielt eine wichtige Rolle im kulturellen Raum, da es nur noch wenige Festivals in Städten wie Kiew gibt, was Zorepad zu einem der wichtigsten Festivals neben Brave! und Strichka macht.

Anna: Es stellt einen wichtigen Teil der Kultur dar, deren Entwicklung wir unbedingt brauchen. Und es ist eine Möglichkeit, das emotionale Wohlbefinden der Menschen zu unterstützen, was ich für den wichtigsten Faktor halte.

Mariya Kanitska: Musik ist Kultur. Zorepad ist eine theatralische Aufführung. Wir sind alle Menschen. Teilnehmende, Schauspieler:innen, Zuschauende. Veranstaltungen wie Zorepad sind eine Gelegenheit, Identitäten zu vereinen, eine Gelegenheit für lokale Künstler:innen, sich zu beweisen, und eine Gelegenheit für kleine und mittlere Unternehmen, Kollaborationen einzugehen und sich zu präsentieren. Das ist es, was ein Land prägt. Das brauchen wir unbedingt, vor allem, wenn wir anfangen, alles wieder aufzubauen. Im Allgemeinen bringt der Tod neue Dinge hervor. Deswegen entsteht gerade jetzt eine neue ukrainische Kultur. Zorepad ist starke Säule in diesem Prozess des Wiederaufbaus der Nation.

frachtwerk: Sind solche Ereignisse mit dem Krieg wichtiger oder unwichtiger geworden?

Mariya: Es ist schwierig, Gut und Böse während eines Krieges zu messen, denn was heute gut ist, kann morgen schlecht sein. Ich glaube jedoch, dass diese Veranstaltungen ihren Platz haben und notwendig sind. Sie bieten eine Pause, eine Chance, abzuschalten und neue Energie zu tanken. Viele Menschen um mich herum arbeiten unermüdlich für unseren Sieg, und Veranstaltungen wie Zorepad bieten eine dringend benötigte Pause, um sich mit alten Freund:innen zu treffen, neue zu finden und sich einen Moment vom Kampf zu erholen.

Sophie: Das ist sehr wichtig. Die Entwicklung der Kultur ist von entscheidender Bedeutung, besonders in Kriegszeiten.

frachtwerk: Habt ihr festgestellt, dass sich die Reaktion des Publikums auf die Musik seit Kriegsbeginn verändert hat? Wie wirkt sich das auf euren Auftritt aus?

Darko: Das Publikum ist nicht mehr so wild, wie es früher war. Jeder hat Verständnis für die Situation, und die Stimmung ist nicht mehr so unbeschwert wie früher. Die Leute tanzen anders.

frachtwerk: Was bringt euch persönlich die Organisation von Zorepad?

Chady Zoratly: Der schönste Aspekt ist, wenn die Leute sagen, wie sehr sie das Festival genossen haben, das hebt die Stimmung. Und das ist das Einzige, was meine Seele erwärmt hat bisher, und nicht meine Taschen.

Darko Lisen: Das Lächeln der Menschen.

frachtwerk: Denkt ihr, dass sich Zorepad von anderen Festivals unterscheidet? Wenn ja, was macht Zorepad eurer Meinung nach so anders?

Mariya Kanitska: Ja, Zorepad unterscheidet sich von anderen Festivals vor allem dadurch, dass es während der ganzen Invasion Russlands entstanden ist, was dem Festival eine einzigartige Entstehungsgeschichte verleiht, die in einer Zeit großer Widrigkeiten wurzelt. Für mich zeichnet es sich durch seine Mischung aus Musik, Stimmung und einem tiefen Verständnis unter den Teilnehmenden aus. Ich bezweifle, dass ich bei irgendeinem anderen Festival ein solches Maß an gemeinsamer Erfahrung und Empathie finden könnte.

Sophie Pelekh: Es ist intim und warm und bringt vertraute, freundliche und intelligente Menschen zusammen, die sich einmal im Jahr treffen, um gute Musik in einer angenehmen Umgebung zu genießen, umgeben von Schönheit. Das Design und die Szenografie des Festivals sind atemberaubend. Die Auswahl der Musik und der Künstler:innen hat mich beeindruckt - meist aufbauend, aber auch nachdenklich und perfekt auf die Veranstaltung und ihr Publikum abgestimmt.

Chady Zoratly (Bild: z.V.g.)

frachtwerk: Hat der Krieg die Art und Weise verändert, wie ihr an die Organisation solcher Veranstaltungen herangeht? Wenn ja, auf welche Weise?

Chady Zoratly: Ja, es ist viel schwieriger geworden. Wir hatten dieses Jahr mit einer größeren Besucher:innenzahl gerechnet und wollten 1500 Besuchende erreichen, um kostendeckend zu arbeiten, aber aufgrund der angespannten Situation und der Ängste der Menschen hatten wir ungefähr die gleiche Anzahl wie letztes Jahr, also etwa 600 bis 700 hinbekommen. Wir haben viel in die Produktion investiert, mit besserem Sound und einem größeren Programm, aber es war schwierig, ein grösseres Publikum anzulocken. Selbst die Künstler:innen waren um ihre Sicherheit besorgt und baten beispielsweise um sichere Fahrten zum und vom Bahnhof.

Darko Lisen: Durch den Krieg ist es für Künstler:innen schwieriger geworden zu reisen. Früher waren Direktflüge wie von London nach Lwiw oder von Berlin nach Lwiw einfach zu erreichen. Jetzt kann die Reise nach Lviv über 31 Stunden dauern, und nach Kyjiw (D: Kiew) sind es noch einmal 8 Stunden mit dem Zug, was die Reise sehr viel schwieriger macht.

frachtwerk: Wie hat die gross angelegte Invasion eure Erfahrungen mit Musik und Festivals beeinflusst?

Mariya Kanitska: Ich habe oft mit Schuldgefühlen zu kämpfen und kann mich nie ganz von den Gedanken an den Krieg lösen. Selbst wenn ich sie für einen Moment vergesse, kommen sie stärker zurück. Aber Musik ist meine Therapie - sie hilft mir, aus den dunklen Ecken herauszukommen. Ich gehe mit Kopfhörern durch die Stadt, ohne Ziel, nur die Musik leitet mich. Bei Veranstaltungen bin ich dankbar für die Chance, mit Menschen zusammenzukommen, die ebenfalls Heilung in der Musik finden.

Sophie Pelekh: Musikveranstaltungen, vor allem lokale, haben oft die besten Momente meiner Woche oder meines Monats geprägt. Ich sah meine Freunde, hörte gute Musik, sonnte mich, trank Cocktails und glaubte eine Zeit lang, dass all diese Freude echt war und nicht bald von Sirenen unterbrochen werden würde.

Anna: Die Invasion hat diese Momente des Auftankens noch wertvoller gemacht, aber es ist unmöglich, sich völlig zu entspannen. Es gibt immer einen nagenden Zweifel - kann ich wirklich hier sein, tanzen und Spass haben?  

frachtwerk: Gibt es einen bestimmten Moment oder ein bestimmtes Gefühl dieses Festivals, den oder das ihr mitnehmen werdet?

Mariya Kanitska: Die Wärme dieser Nacht wird mir in Erinnerung bleiben - die eine Sommernacht, die ich im Freien verbringen konnte. Zorepad hat mir einen Sommertag und eine Sommernacht beschert, die sich nicht wie eine verlorene Jugend anfühlten.

Sophie Pelekh: Ja, ich habe mich wieder als Mensch gefühlt. Obwohl wir in der Natur waren, war alles so zivilisiert und angenehm. Ich konnte sowohl lokale als auch internationale elektronische Musik kennen lernen - eine wirklich erstaunliche künstlerische Erfahrung.

Anna: Es gibt viele Momente, die mir alle von den Menschen um mich herum geschenkt wurden. Die warme Atmosphäre von Zorepad wird mir noch lange in Erinnerung bleiben.

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