frachtwerk: Wie würden Sie Ihren Beruf als Musiktherapeut in einem Satz beschreiben?
Lukas Reinhardt: Da die Musiktherapie ein sehr breites Gebiet ist, kann ich die Inhalte kaum in einem Satz zusammenfassen. Der französische Schriftsteller und Philosoph Victor Hugo bringt es mit seinem Zitat: «die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist», am ehesten auf den Punkt. Vielen Menschen ist die zentrale Wichtigkeit der Musik gar nicht bewusst. Nur schon Takt und Rhythmus sind für Musik und Leben grundlegend. Unser Alltag ist eingeteilt in gewisse Zeiten und Takte, welche auch im Wesen der Musik wieder zu finden sind. Nur schon dadurch sieht man eine deutliche Parallele zum Leben und merkt, wie Musik unbewusst eine Bedeutung für unser Leben hat.
frachtwerk: Welche Bürden bringen Ihre Patient:innen mit?
Lukas Reinhardt: Konkret bin ich für zwei Behandlungszentren verantwortlich. Im einen befinden sich Spezialtherapiestationen für Suchterkrankungen, Depressionserkrankungen und Psychotherapie sowie die Privatstation, im anderen die Gerontopsychiatrie (Zweig der Psychiatrie, welcher sich mit der Behandlung psychischer Störungen mehrheitlich im höheren Lebensalter befasst) und die Station für junge Erwachsene (16-25 Jahre). Zusätzlich gibt es noch eine Spezialstation für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, beispielsweise Alzheimer-Demenz.
frachtwerk: Was sehen Sie für Effekte der Musiktherapie auf Ihre Patient:innen direkt nach einer Therapiesitzung oder über einen längeren Zeitraum?
Lukas Reinhardt: Bei den allermeisten Fällen sieht man bereits kurzfristig eine positive Veränderung des Zustands. Ich würde sagen, dass dies bei 90 % der Fälle so ist. Falls die Therapie nicht in der gewünschten Zeit anschlägt, suchen wir das Gespräch mit unseren Patient:innen, um sie weiterhin zu motivieren. Mit der Option die Sitzung jederzeit abbrechen zu können, entlasten wir sie und geben ihnen Raum neuen Mut zu schöpfen. Der Satz «zum Glück bin ich geblieben» von unseren Patient:innen zu hören, welche sich zuerst abmelden wollten, freut uns immer wieder und bestätigt unsere Bemühungen. Unser Ziel ist erreicht, wenn die Patient:innen die Therapie positiv gestimmt verlassen. Alle ihre Probleme sind damit natürlich nicht gelöst, jedoch kann ein guter Ansatz entstehen an diesen zu arbeiten.
frachtwerk: Wie sieht die Zusammenarbeit mit anderen Fachpersonen in diesem Gebiet aus?
Lukas Reinhardt: Zusammenarbeit und Kommunikation werden in unserem Haus grossgeschrieben. Auch das interdisziplinäre Denken und Handeln ist grundsätzlich eine Voraussetzung, um hier arbeiten zu können. Ja, wir sind ein Behandlungsteam und wir alle verstehen uns als Teil davon. Also nicht ich behandle ein:e Patient:in im Alleingang, sondern meine Arbeit ist ein einzelnes Puzzleteil im Ganzen. Weitere Elemente können beispielsweise Kunst-, Ausdrucks- und Körpertherapie sein. Genauso wichtig sind Gespräche mit Psycholog:innen und Ärzt:innen. Ich sehe die Zusammenarbeit als Bild, unterteilt in einzelne Puzzleteile und wenn ein Teil fehlt, dann ist das Ganze unvollständig.
frachtwerk: Welche Rolle spielen Schuld und Schuldgefühle bei Ihnen in der Musiktherapie?
Lukas Reinhardt: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, denn viele Menschen fühlen sich tatsächlich schuldig an ihrer Erkrankung. Sie können sich deshalb schuldig fühlen, weil sie nicht mehr imstande sind, ihre zuvor erbrachten Leistungen im Arbeits- und Privatleben zu erbringen. Gerade bei älteren Menschen ist dies häufig ein Thema: Diese betreuen vielleicht ihre Angehörigen, den Ehemann oder die Ehefrau, und plötzlich geht dies für sie nicht mehr. Sie fühlen sich schuldig – «jetzt kann ich meine Pflegedienste für meine Angehörigen nicht mehr erbringen». Das löst häufig Schuldgefühle aus. Ja, das ist ein grosses, wiederkehrendes Thema.
frachtwerk: Wie gehen Sie konkret, methodisch oder instrumental mit den Schuldgefühlen Ihrer Patient:innen um und helfen Ihnen bei der Verarbeitung?
Lukas Reinhardt: Es ist ein Prozess, den die Menschen durchlaufen, und ich versuche sie zu begleiten. Was ich bewirken kann, ist – und da kann gerade Musik viel dazu beitragen –, meinen Patient:innen eine andere Sicht auf ihre Schuldgefühle und ihre Situation zu ermöglichen. Sie sind krank und können ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen. Andere machen das ihnen vielleicht zum Vorwurf. Es gibt Leute, denen vorgeworfen wird, dass sie sich zurückziehen, anstatt zu Hause nach dem Rechten zu schauen. Da versuche ich, einen Blickwechsel zu initiieren. «Warum werfen Ihnen diese Leute das vor?» Ich versuche zu erreichen, dass die Patient:innen sich die Situation selbst erklären können und sie durch Fragestellungen zum Denken zu animieren. So kommen sie vielleicht auf die Idee, dass die Person, welche ihnen Egoismus vorgeworfen hat, sich selbst vielleicht egoistisch verhält. Weil diese von ihrer Leistung profitiert hat und persönliche Grenzen nicht akzeptiert hat. Und jetzt ist vielleicht jemand anderes gefragt. Und diese Person wirft ihnen nun Egoismus vor. Wer verhält sich jetzt egoistisch?
frachtwerk: Also eine Art Aufzeigen.
Lukas Reinhardt: Selbsterkennen und ja, diese Erkenntnis aufzeigen und kommunizieren.
frachtwerk: So, dass man auch näher an eine Selbstakzeptanz in der Situation kommt?
Lukas Reinhardt: Ja, Selbstakzeptanz und die Situation so akzeptiert, wie sie ist. Denn häufig wird ein Klinikaufenthalt zuerst abgelehnt. Eine Patientin sagte es einmal so: «Ich habe mein Leben lang gearbeitet und nun lande ich hier in der Klinik». Bumm. Das ist in der Tat – das kann ich grundsätzlich nur bestätigen – wirklich eine unschöne Situation, da gibt's nichts zu beschönigen. Und dann in einem zweiten Schritt, wenn man die Situation etwas analysieren kann: Aha, was hat zu der Situation geführt, was ist denn da passiert und was hat nicht mehr funktioniert? Weil häufig braucht es schlussendlich eine Anpassung der Lebensführung, vom Lebensmodell. Das ist dann häufig die Erkenntnis daraus – so wie es gewesen ist, so kann's nicht mehr weitergehen. Ich muss etwas ändern, sonst bin ich sehr schnell wieder am selben Punkt. Es braucht eine Veränderung. Bei der Person selbst, aber auch eine Veränderung des Umfelds. Vielleicht kennst du das Kinderspielzeug – ein Holzkasten mit verschiedenen Formen – rund, dreieckig, viereckig, Sternen und dann hat's Löcher und jede Form passt nur an einem Ort rein. Wenn ein solches Teil seine Gestalt verändert, dann passt es plötzlich nirgends mehr rein. Dann kann es sein, dass sich dieses Teil verändern muss. Es kann aber auch sein, dass sich an der Vorgabe mit den Löchern etwas verändern muss. Und das ist dann der Prozess mit den Patient:innen. Die Frage ist dann, wo braucht es eine Veränderung oder eine Anpassung? Der Weg ist immer ein Erkennen der Situation der betroffenen Person selbst. Das ist eigentlich das Einzige, was funktioniert. Wenn ich als Musiktherapeut die Situation anschaue und mich einbringen würde im Sinne von «Ach ja, das ändern Sie, das lassen wir und dafür gehen Sie dahin» (lacht). Selbst angenommen, ich hätte recht, kann sich daran nichts ändern.
Ich sehe dies aber nur von aussen. Vielleicht liege ich auch falsch mit meiner Analyse bzw. meiner Interpretation. Wenn ich als Therapeut durch Musik ein Angebot schaffe, gerade in der Gruppe, kann das sehr aufschlussreich sein. Meistens können die Menschen, die zu uns kommen, kein Instrument spielen. Die Patient:innen fragen sich dann zum Beispiel: Wie verhalte ich mich in der Gruppe? Traue ich mich, einen Ton zu spielen? Oder mache ich gar nichts, aus Angst, ich könnte einen Ton spielen, der nicht passend ist? Und wenn ich es mal wage und einen Ton schaffe und dieser passt nicht ins Gesamtkonzept, was macht das dann mit mir, was macht das mit den anderen in der Gruppe? Und realisieren vielleicht, dass das, was sie stört, vor allem etwas mit ihnen selbst zu tun hat.
frachtwerk: Wie kommt man auf den beruflichen Weg zur Musiktherapie? Wem empfehlen Sie das?
Lukas Reinhardt: Grundsätzlich gibt es zwei Wege zur Musiktherapie. Entweder kommt man aus einem medizinischen Beruf oder aus einem musikalischen Beruf. Bedingung auf jeden Fall ist, dass die Musik für einen selbst wichtig ist und ein Instrument wirklich gut spielen zu können. Darunter versteht man, dass man sich mit dem Instrument ausdrücken kann, einen spielerischen, kreativen Umgang damit findet. Denn das braucht es ja schlussendlich. Dass man darauf improvisieren kann, frei, aber auch strukturiert. Ich kann auch nicht jedes dieser Instrumente, die hier sind, spielen, aber dass man die Fähigkeit hat, jedes Instrument zum Klingen zu bringen, ist sicher wichtig. Und damit einen Prozess begleiten kann. Andere Menschen damit anleiten zu können oder sie zu inspirieren, selber etwas auszuprobieren.
Es ist ein vierjähriges Studium, wo natürlich Psychologie einen sehr grossen Teil darstellt. Über die musikalischen Funktionen – Musik hat verschiedene Funktionen. Zum Beispiel ist die Erinnerungsfunktion für die meisten Menschen am bekanntesten. Wenn man ein Lied hat oder eine Musik, welche an irgendein Ereignis gekoppelt ist und wenn man diese Musik hört, ist man in diesem Ereignis drin. Das passiert im Positiven, leider auch im Negativen. Das ist wieder die Herausforderung der Musiktherapie, gerade wenn man die Menschen noch nicht kennt, kann man natürlich ins Fettnäpfchen treten. Mit einer Musik kann man etwas auslösen, was bei der Person ein traumatisches Erlebnis triggern kann. Wenn man dies natürlich beim ersten Kontakt schafft, dann hat man gerade etwas zu tun.
Darum ist mein Ansatz in der Therapie, niederschwellig einzusteigen. Mit Rhythmus mal in Kontakt zu kommen, weil da das Risiko am geringsten ist, dass bei der Person etwas getriggert wird. Ich beginne auch nie mit einem bekannten Lied. Aber im Verlauf können persönliche Präferenzen an Wichtigkeit gewinnen. Bis am Schluss dann auch mit vertrauteren Melodien oder Musik, die an ein negatives Erlebnis gebunden ist, gearbeitet werden kann. Schlussendlich geht es nicht darum, etwas auszublenden oder zu vermeiden. Es geht aber auch nicht darum, etwas zu provozieren, was den Menschen für ein halbes Jahr therapieunfähig macht. Weil die Person überwältigt ist von den Gefühlen, welche eine bestimmte Musik bei ihr ausgelöst hat. Das ist die Kunst dieser Arbeit. Ja, auch wirklich gut im Kontakt zu sein, immer so gut wie möglich zu spüren was abgeht und was sich in einem abspielt. Auf einer guten Beziehungsebene zu sein, eine gute Beziehungsebene aufzubauen, das ist eigentlich das Wichtigste. Die eben auch tragfähig ist, dass es auch etwas aushalten kann, was für die Patient:innen herausfordernd ist.
Gerade in einer Gruppe kann man nicht immer alles steuern, was passiert. Weil jeder Mensch gibt etwas rein und dann kann es sein, dass jemand etwas spielt oder in eine bekannte Melodie eintaucht. Wenn die Person ein Instrument hat, mit der sie vertraut ist, «ja ich spiele etwas und das löst bei dir eine Katastrophe aus». Das kann passieren. Es braucht wirklich viel Achtsamkeit bei dieser Arbeit. Obwohl man selbst im Prozess ist, aber mit allen Sinnen muss man wachsam sein, was passiert. Und man macht ja nicht nur Musik. Ebenso wichtig ist auch das Gespräch danach. Denn nach jeder Musiksession gibt’s ein Nachgespräch. Darin geht es darum, wie sich die Leute während dem Musikteil gefühlt haben, was bei ihnen ausgelöst wurde, was einfach, was anspruchsvoll war und wo man sich herausgefordert gefühlt hat.
Dort, wo sich die Menschen herausgefordert fühlen, läuft ein Therapieprozess. Das ist eine Gratwanderung zwischen Unter- und Überforderung. Überforderung ist nicht gut, und Unterforderung ist nicht gut. Sondern dass man es auf den Punkt bringt und da bleiben kann.
Lukas Reinhardt
Lukas Reinhardt ist langjähriger Musiktherapeut. Er hat sein Studium der Musiktherapie im Jahr 2019 abgeschlossen.
Während seiner Ausbildung absolvierte er 2017 ein erstes Praktikum in der Klinik SGM in Langenthal. 2018 absolvierte er in der Klinik Zugersee in Oberwil bei Zug sein zweites Praktikum. Seit 2019 ist er als Musiktherapeut in der Klinik Zugersee tätig.
Klinik Zugersee:
Die Klinik Zugersee gehört zur Tria plus AG, der integrierten Psychiatrie Uri, Schwyz und Zug mit stationärem und ambulantem Angebot.
In den drei Behandlungszentren der Klinik Zugersee gehören neben regulären Behandlungen von psychisch erkrankten Menschen aller Versicherungskategorien auch akute Notfälle und stationäre Kriseninterventionen zum Klinikalltag. Privatpatient:innen aus der ganzen Schweiz und dem Ausland werden auf der Psychotherapiestation Privé behandelt.