«Dürfte ich um etwas Kleingeld bitten?» – Diese Frage hört man oft in Luzern. Hier leben viele Menschen unter dem Existenzminimum und kämpfen um jeden Franken, damit sie in der «GasseChuchi» essen gehen, Zigis kaufen oder sich mal ein Bier genehmigen können. Eine dieser Menschen ist Simea. Viele kennen sie und ihre leuchtend blauen Augen. Sie lächelt die Menschen immer an. «Ich gehe positiv durchs Leben», sagt sie. «Es ist wichtig, immer gut zu sich selbst zu sein und stolz darauf zu sein, was man erreicht hat.»
Dabei hatte es Simea alles andere als leicht. Sie war ein fröhliches Kind, das gern zur Schule ging und gute Noten schrieb. Doch daheim war die Stimmung nicht gut. Die Eltern stritten ständig, es gab viel verbale Gewalt. «Eigentlich hätten sich meine Eltern um mich kümmern müssen. Stattdessen kümmerte ich mich um sie. Ich musste als Kind die Erwachsene sein», erinnert sie sich. Sie guckt in die Ferne. «Als ich 15 Jahre alt war, kam der Schlussstrich. Meine Mutter zog mit mir gemeinsam aus.» Eigentlich hätte jetzt alles besser werden können. Doch die noch junge Mutter von Simea lebte ihr Leben weiter und hatte wechselnde Partner, die sie auch mit nach Hause nahm. Ein gefundenes Fressen für den Vater, der mit dieser Information dafür sorgte, dass sie das Sorgerecht verlor. «Das war schwer für mich. Ich hätte bei meiner Mama bleiben wollen», sagt Simea.
Das Unheil begann mit Cannabis
Bei ihrem Vater wollte sie nicht sein. Zu zerrüttet war das Verhältnis. Also zog sie mit 16 in ein Zimmer, das ihre Eltern bezahlten, und wurde schnell selbstständig. Zu schnell. Als Ausgleich dazu griff sie zu Joints. Anfangs rauchte sie ab und zu, doch schon bald nahm der Konsum übermässige Ausmasse an. Simeas Noten wurden schlechter, sie konnte sich nicht mehr auf die Schule konzentrieren und wurde abhängig. «Schnell merkte ich, dass ich ohne Cannabis nicht durch den Tag komme», gesteht sie. Zwei Mal haute sie ab, weil ihr alles zu viel wurde. Sie fragte Passant:innen nach Geld und übernachtete auf der Strasse. Beim zweiten Mal wurde sie von der Polizei in Italien aufgegriffen und dort in die Psychiatrie gebracht. «Zum Glück kam meine Mutter und holte mich», sagt Simea. Dennoch: Es wurde eine Psychose aufgrund des starken Cannabis-Konsums festgestellt. «Ich war verwirrt, konnte mich nicht mehr orientieren oder richtig ausdrücken. Es war schlimm», erinnert sich die heute 41-Jährige. Also landete sie mit 18 Jahren in der Psychiatrie St. Urban.
Sie schaffte es schliesslich selbst, mit dem Cannabis aufzuhören. «Darauf bin ich stolz», sagt sie. Langsam kehrte der Verstand zurück, sie spürte, wie es ihr besser ging. Sie erhielt einen Beistand, der ihr beratend zur Seite stand. Dennoch: Die schwierige Beziehung zu den Eltern und die Sucht haben Simea geprägt.
Simea musste täglich Medikamente nehmen, um die Sucht im Griff zu behalten und ihre Depressionen, die immer stärker wurden, zu kontrollieren. Sie arbeitete ab und zu im Service, aber irgendwann entschloss sie sich, in der «Wärchbrogg» zu arbeiten – einem geschützten Arbeitsplatz. Hier fühlte sie sich erwünscht, gut aufgehoben und gefordert. Inzwischen war sie 32 und setzte schliesslich die Medikamente ab, in der Hoffnung, dass es noch weiter bergauf geht. «Ich konnte tolle Gespräche mit meiner Ärztin führen», berichtet sie. Doch inzwischen konsumierte sie nebst Zigaretten auch «Sugar». Eine Droge, die sehr schnell süchtig macht. Davon loszukommen, war eine der schlimmsten Zeiten in ihrem Leben. «Die Entzugserscheinungen waren massiv», sagt sie. «Man hat das Gefühl, man stirbt.»
Aber sie zog den Entzug durch und ist seither regelmässig im Drop-in. Das Drop-in ist eine ambulante Behandlungs- und Abklärungsstelle für opioid- oder mehrfachabhängige Menschen. Hier erhält sie Medikamente, die ihr helfen, drogenfrei durch den Alltag zu kommen. Auch ihre inzwischen diagnostizierte schizoaffektive Störung hat sie im Griff. «Es hat Seelsorger hier, mit denen man reden kann», berichtet Simea. «Ich bin dankbar dafür. Es tut einfach gut. Auf diesem Weg konnte ich viel aus meiner Vergangenheit aufarbeiten.»
Simea geht es heute gut. Sie hat einen Beistand, der sie unterstützt, sie bewohnt ein Zimmer in der «Stiftung Wohnen» in Luzern und hat echte Freunde gefunden. «In der Gassenküche fühle ich mich wohl. Hier sind Freundschaften auf Augenhöhe entstanden, da wir alle ähnliche Schicksale teilen. Wir unterstützen einander und haben viel gegenseitige Empathie.» In diesem Ausmass habe sie das vorher nie erlebt. «Ich fühle mich verstanden.»
Dennoch: Sie muss mit 30 Franken pro Tag auskommen. Das ist nicht viel Geld. Daher stellt auch sie ab und zu die Frage: «Habt ihr vielleicht ein bisschen Kleingeld für mich?» Ob sie sich dabei unerwünscht fühlt? «Nein.», sagt Simea ganz klar. «Ich erlebe die Menschen in der Regel freundlich und lieb.» Das liegt wohl daran, dass auch Simea immer freundlich und offen auf die Menschen zugeht. «Ich vergleiche mein Leben nicht mit dem der anderen. Ich versuche, mein eigenes Leben so gut wie möglich zu gestalten. Mir ist wichtig, immer positiv zu sein. Zu sich selbst und auch zu allen anderen.»