Flügelwesen, Wassergeister, Sylphiden – jene Wesen hatte die Ballerina der französischen Romantik im 19. Jahrhundert zu verkörpern. Verkörperung als unumgänglicher physischer Akt widersprach aber den damaligen ästhetischen, patriarchalen Ansprüchen, denn im ‚ballet blanc‘ musste die Ballerina in weisse Kleidern gehüllt mit luftiger Mühelosigkeit und ätherischer Überwindung der Körperlast den Anschein zärtlicher Geisterwesen evozieren. Der vertikale Spitzentanz der Starballerina Marie Taglioni wurde zur genretypischen Bewegung. Doch der weibliche Körper stand dem männlichen Willen nach Körperlosigkeit in der Quere und die Belastungen dieses Hochleistungssports waren kaum kaschierbar.
Der immateriellen Illusion dienten nebst choreographischen Mitteln die weiten Tutus aus Gaze oder Tüll und die Gasbeleuchtung, in dessen Nähe die Ballerinen Pirouetten vollzogen, sodass die leicht entflammbaren Stoffe Feuer fingen. Feuerunfälle bei Proben und Aufführungen waren Norm, denn praktische Sicherheitsvorkehrungen wurden den szenischen Ansprüchen der Choreographen, den ästhetischen Erwartungen des Publikums und dem Wunsch der Intendanten, erotische Begierden zu wecken, hinten angestellt. Beispielhaft sind Emma Livry, deren Flügel während der Aufführung vom Feuer versengten, und der öffentliche Verbrennungstod von Clara Webster, deren Verbrennen im Feuilleton als poetisches Entschwinden eines Feuerwesens und finale Auflösung des physischen Körpers romantisiert wurde. In Philadelphia verbrannten im Jahr 1861 auf einen Schlag sechs Ballerinen.
Aufgrund des Starkultes, der einen skrupellosen Wettbewerb unter den Ballerinen auslöste, und den Versprechungen der patriarchalen Institutionen, mühten sich die Ballerinen körperlich ab, liessen die strapaziösen Kostüme über sich ergehen und wurden Märtyrerinnen der männlichen Kunstästhetik. Vereinzelt gab es Gegenwehr. So soll eine Ballerina nach Livrys Unfall ausgerufen haben: «Bah! Wir verbrennen nur einmal, aber müssen jeden Abend diese hässlichen Röcke ertragen!»
Dass heute Tänzer:innen vor dem Publikum tödlich verbrennen, ist nicht mehr denkbar. Der romantisierte Feuertod ist jedoch historische Symptomatik für grundlegende Strukturen, die bis heute in der Ausbildung und an den Stadt- und Staatstheatern andauern. Übergriffe und Ausbeutung innerhalb patriarchalen, weissen Machtstrukturen, der Wettkampf unterhalb der Tänzer:innen zur eigenen Existenzsicherung, die hohen Anforderungen an körperliche Schmerzgrenzen und die Reproduktion alter Körperbilder, insbesondere weiblich gelesene, sind bloss einige Beispiele eines bereits jahrhundertealten Systems europäischer Theaterhäuser, das pyramidal die universelle Entscheidungsmacht beim grösstenteils männlichen «Genie» festmacht.
Doch dieses System muss sich wandelnden Normen undwehrhaft werdenden Tänzer:innen stellen, die immer öfter mit den Missständen an die Öffentlichkeit gehen, so beispielsweise bei der Tanz-Akademie Zürich 2022. Dem Druck durch die Intendanz und dieser Abhängigkeit ergeben sich langsam aber sicher immer weniger Angestellte, da der gesellschaftliche und sparteninterne Blick die veralteten Produktions- und Arbeitsweisen im Theater und Tanz mit queerfeministischen, postmigrantischen und gewerkschaftlichen Konzepten konkret reflektiert und kritisiert, und betroffene Personen bestärkt, sich zu wehren. Zudem müssen sich die Institutionen stets selbst hinterfragen, auf welchen Grundlagen ihr Verständnis von Theater und Tanz und ihre Produktionsansätze basieren, und ob diese noch zeitgemäss sind. Sodass kein:e Tänzer:in auf der Bühne mehr verbrennen oder jeden Abend hässliche Röcke tragen muss. Damit dieses Übertragen optimistischer Gesellschaftsentwicklungen auf die Theaterhäuser keine Utopie bleibt, dürfen diese Entwicklungen nicht als situationsbedingter Trend betrachtet werden, sondern als stetiger Prozess einer wachsamen Öffentlichkeit.