Die Tragweiten (k)einer szenischen Zigarette

Eine Figur tritt auf die Bühne, die Präsenz spürbar, die Worte einflössend - und entzündet eine Zigarette. Nur ohne Rauch. Ein Theaterrequisit halt. Darf denn heutzutage auf der Bühne nicht mehr richtig geraucht werden? Soll das Kunsttheater alles dürfen? Und wieso falsche Zigaretten, wenn man sie auch ganz weglassen könnte? Bei meiner Suche nach den Antworten, beginnt nicht nur die Zigarette, sondern auch mein Kopf zu rauchen…

Autor:in:
Léon Schulthess
Hinweise:

Die Zigarette als Requisit einer Figur beeinflusst, wie ihr Gestus und das gesamte szenische Geschehen wahrgenommen wird. Das Rauchen und Halten einer Zigarette verändert die Haltung, Gestik, Mimik und Artikulation. Den visuellen Reiz dieses Phänomens ergänzen die geruchsbeissenden Rauchschwaden, der Klang des tiefen Inhalierens und die Wärme, je nach Berührung gar der Schmerzsinn. Brennende Zigaretten beeinflussen, auch wenn nur subtil, das raumkörperliche Verhältnis und die Interaktionen der szenischen Figuren und Objekte. Die Ausprägung und Intensität der Wahrnehmung dieser Zigarettenfacetten durch das Publikum wird aber auch durch den Bühnenraum bestimmt: Ist das Publikum auf konfrontierender Distanz wie im tradierten europäischen Theater? Gibt es brechende Annäherungen zwischen dem szenischen und dem realen Raum? Löst sich die räumliche Trennung gänzlich auf wie in immersiv-partizipativen Projekten? Mit der Definition des szenischen Raumes, in und aus welchem die Zigarette wirkt, geht der genreästhetische Aspekt einher.

Das hyperrealistische Bühnenbild des Naturalismus täte sich mit einer falschen Zigarette schwerer als epische und zeitgenössische Darstellungsformen, die legitimer eine echte Zigarette anhand einer falschen repräsentieren können, entweder mithilfe eines Theaterrequisit oder der Geste zweier gespreizter Finger am Duckface-Mund. Dort wäre es wiederum auffallender, wenn wirklich geraucht würde. Diskutabel sind Fake-Zigaretten auch in historischen Reenactments oder Nonfiction-Theatre, die Faktualität behaupten. Fake-Zigaretten bergen kein Risiko des Verhusten oder dass sie nicht richtig brennt, diese Fehler bezeugen aber eine realistische Glaubwürdigkeit.

Diese Kontraste einer Fake-Zigarette im Bühnenrealismus und einer richtigen Zigarette in der kompletten szenischen Repräsentation verblüffen und stören die Wahrnehmung. Es könnte einer brechtschen Verfremdung gleichkommen. Würden diese Kontraste zwischen den theatralen Elementen ohne Begründung gelassen, löse diese bedeutungslose Situation gar Verlorenheit aus, die das Publikum mit eigener Sinngebung aktiv zu füllen versucht. Ein typisches Stilmittel (neo-)avantgardistischer Theaterästhetik, die wiederum darauf verweist, wie die Zigarette oder Fake-Zigarette als kulturelles Zeichen die Figur, den Bühnenraum und die szenische Handlung mit Bedeutungen und Assoziationen codiert

Die ästhetische Sicht zeigt kein Ja oder Nein für die Zigarette. Ob sie verwendet oder dargestellt wird, bestimmt die Abwägung der Regie betreffend des Bühnenrealismus, der szenischen Kontrastelemente und der Wirkung als Phänomen und Symbol auf das Publikum. Aber wieso überhaupt rauchen oder so tun als ob?

Sie bedingt eine demokratische Auseinandersetzung

Ob eine Figur raucht oder nicht, hatten lange die Dramenautor:innen (v.a. Männer) definiert, und daran hatten sich die Regisseur:innen (auch v.a. Männer) bis in die 1960er-Jahre strikt gehalten. Dann übernahmen letztere die Deutungs- und Darstellungshoheit über das Drama, welches sie nach ihrem Gusto inszenierten. Die Regiemacht und Postdramatik befreiten jahrhundertelang rauchende Figuren von ihren Zigaretten oder reichte den gesunden ein Lungenbrötchen. So kann es sein, dass Schauspieler:innen im Stadttheater nicht mehr zwangsläufig wegen der dramatischen Figur rauchen müssen, jedoch wegen der Entscheidung der Regie. In der basisdemokratischenfreien Szene können sich Schauspieler:innen diese Entscheidung einfacher aneignen. Die Bedeutungsgewichtung zwischen Gesundheit der Schauspieler:innen und ästhetischer Bühnenkomposition führt je nach struktureller Hierarchie zu Diskussionen und Überstimmungen. Hinzu kommt die Feuersicherheit des Theaterraumes, des Bühnenbildes, der Kostüme und grundsätzliche Regelungen des Veranstaltungsortes, der auch eine trockene Holzscheune mit ganz viel Heu sein kann. Mit Blick auf die anderen Schauspieler:innen und Besucher:innen kann das Passiv-Rauchen thematisiert werden.

Aus Produktionssicht argumentieren die Aspekte derGesundheit und der Sicherheit gegen die Zigarette. Schlussendlich muss einefaire Diskussion in der Produktion und den betroffenen Personen stattfinden,ob, wieso und wessen Figur eine Zigarette raucht.

Vermittelt Theater Tugenden?

Die Stilisierung der Zigarette zum galanten Mode-Element, welches Intellektualität und Weltlichkeit ausstrahlt, hatte sich insbesondere durch ihre Verwendung in den Künsten und dessen Umfeld tief im kulturellen Verständnis eingeprägt. Dies wandelt sich aber immer mehr, rauchen gilt nicht mehr derart chic und cool wie auch schon und der gesundheitliche Aspekt nimmt durch veränderte Verständnisse von Körper, Selfcare und Schönheit in der popkulturellen und medialen Darstellung Einzug. Auch wenn die szenische Verwendung der Zigarette nicht eins zu eins dem alltäglichen Rauchen gleich kommen kann, ist sie aus öffentlicher Sicht deplatziert. Und wenn wir nach Lessing das Theater als Schule der Vernunft und Tugend definieren, dann wäre die Darstellung einer echten wie auch falschen Zigarette pädagogisch nicht sinnvoll. Aber bevor sich alle auf ein Theaterverständnis einigen können, wird es zusammen mit der Menschheit und der Zigarette ausgestorben sein.

Abschliessend finde ich kein Richtig oder Falsch im Umgang mit der Zigarette auf der Bühne. Die Faktoren der Regieästhetik, der Absicht und Bedeutung der Zigarette, der Beteiligten auf und nebst der Bühne, des Raumes und des öffentlichen Diskurs definieren je unterschiedlich, ob die Figur und ein:e Schauspieler:in richtig, gestisch oder gar nicht raucht.

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