«Die freie Szene ist eine Ruine mit massivem, brachem Potential»

Vom 12. bis 21. September fand das Festival der freien Performing-Arts-Szene Zentralschweiz namens «Ihre Majestät» statt. 44 szenische Projekte von über 100 zentralschweizer Künstler:innen wurden im Südpol, im Kleintheater und im Luzerner Stadtraum gezeigt. frachtwerk hat sich mit den beiden Produktionsleiterinnen Annette von Goumoëns und Gilda Laneve getroffen. Ein Austausch über Räume, Ruinen und Standorte der freien Szene und weswegen diese renoviert werden müssen.

Autor:in:
Léon Schulthess
Titelbild:
Ihre Majestät

frachtwerk: Wie beschreibt ihr die Erstausgabe des Festivals «Ihre Majestät» in kurzen Worten?

Annette von Goumoëns: Wohltuend chaotisch.

Gilda Laneve: Eine mega schöne Atmosphäre für alle Künstler:innen und Besucher:innen, die hier waren.

frachtwerk: Hattet ihr persönliche Highlights?

Gilda Laneve: Das Gelingen, viele verschiedene Arten von Performing-Arts zusammenzubringen, so dass man an einem Abend vom Figurenspiel über Jodel bei einer Lesung landen konnte.

frachtwerk: Diese breite Palette an unterschiedlichsten Projekten unterliegt laut eurer Website keiner Kuration. Ist dies die Prämisse des Festivals oder gar doch eine Kurationsstrategie? 

Annette von Goumoëns: Kuration ist für mich ein Begriff des etablierten Theaterbetriebs. Die freie Szene als Gegenkultur zum Kunstestablishment geht verloren, weil diese «Kuratitis» auch dort Einzug hält, sie abhängig macht und bevormundet. Dieses Festival als Gegenbeispiel soll Plattform für alle sein, die Lust haben, mitzumachen. Wir haben niemanden ausgeladen und allen Künstler:innen gleich viel Geld zur Verfügung gestellt.

Gilda Laneve: Die Entstehung des Programms basierte auf der Verfügbarkeit der Künstler:innen.

Annette von Goumoëns: Und ihren Wünschen nach Räumlichkeit, Zeit etc. Und dieser Wildwuchs ohne dramatische Kuration der unterschiedlichsten Projekte konnte dennoch am Stück konsumiert werden.

Gilda Laneve: Wir implementierten auch Wiederaufnahmen. Diese brauchen aber mehr Raum, Zeit und Technik, ohne dass wir genügend Gagen auszahlen können.

Annette von Goumoëns: Wiederaufnahmen sind in der Szene beliebt, da man fünf Wochen produziert und dann drei Mal aufführt. Spielst du auch oder probst du nur? Dafür benötigt es aber ein anderes Gefäss. Für ein Festival sind kleine, agile und bruchstückhafte Projekte cool, wie ein siebenminütiges Solo einer jungen Tänzerin aus Obwalden, die sich selber choreographiert hatte. Für solche Leute ist das eine tolle Plattform, da man diese Vorschauen und Einblicke in Produktionsprozesse nach dem Festival ausbauen kann. Diese Formen legten wir den Künstler:innen deswegen nahe.

Gilda Laneve: Doch wer sind «wir»? Nicht wir zwei bestimmen, sondern die freie Szene. Gemeinsame Abstimmungen und Diskussionen sind der Prozess dieses Festivals. Wir überlegen etwas, streuen es in die Szene und dann können alle daran teilhaben.

frachtwerk: Inwiefern klappte diese Zusammenarbeit mit den Künstler:innen und den Institutionen?

Gilda Laneve: Überwältigend reibungslos. Die Häuser vom Südpol und Kleintheater vertrauten uns enorm, und ihr Personal und ihre Leitungen sind Gold wert. Es läuft einfach, alles wird eingerichtet und klappt selbstständig. Das war eine riesige Stütze, damit wir diese Masse an Angeboten besser unter einen Hut bringen und kommunizieren konnten.

Annette von Goumoëns: Ich dachte, es gäbe mehr E-Mail-Stress und Misskommunikationen. Doch auch die Szene vertraute uns sehr fest, weswegen alles unkompliziert lief.

 

«Ein Festival ist eine richtig gute Standortbestimmung»

 

frachtwerk: Die Zugänglichkeit der Künstler:innen zum Festival war dementsprechend sehr offen. Wie war das bei den Institutionen Südpol und Kleintheater?

Gilda Laneve: Unser Anliegen war, draussen stattzufinden. Dann erschien es aber interessanter, ein vernetzendes Miteinander von freier Szene, Häusern und Künstler:innen zu schaffen. Als die beiden Häuser uns ihre Bühnen anboten, beanspruchten die Künstler:innen lieber diese als den Stadtraum. Das ist ein Zeichen für uns.

Annette von Goumoëns: Ein Festival ist eine richtig gute Standortbestimmung in allen Bereichen des Zustands der freien Szene.

Gilda Laneve: Die freie Szene ist noch nicht parat, überall stattzufinden, da sie sich auf die Häuser und ihre Bühnen verfestigt hatte. Ich fände es interessant, freiere Optionen im Aussenraum in Betracht zu ziehen. Denn an einem Festival präsentiert die freie Szene ihr vielfältiges Angebot, weswegen es das Ziel war, das Publikum draussen abzuholen und so dann wieder den Häusern zuzuführen.

Annette von Goumoëns: Es ist eine inzestuöse Szene, man geht sich selber schauen und alles findet drinnen, ab von der Gesellschaft, statt. Den Ruf, die freie Szene seien diejenigen die es nicht in den etablierten Betrieb geschafft hätten, kann man so nicht ablegen. Die Szene muss in den öffentlichen Raum zu den Leuten gehen, um zu zeigen was sie kann.

 

frachtwerk: Führt ihr dieses Publikumsproblem auf das aktuelle veränderte Konsumverhalten von Kultur zurück? 

Gilda Laneve: Es ist ein generelles Problem der darstellenden Künste. Die freie Szene ist gefragt, innovativ das Publikum zu motivieren, ihre Kunst zu schauen.

Annette von Goumoëns: Die freie Szene hatte immer Publikumsprobleme, da jedes Kollektiv und Haus sein eigenes Publikum hat. Aufgrund des Umfeldes der vielen beteiligten Künstler:innen hofften wir auf volle Buden. Das ist nicht passiert. Ebenso macht die freie Szene miserabel Werbung, was mit der Bevormundung der Häuser zu tun hat, da sich die Künstler:innen auf jene Stellenprozente für Öffentlichkeitsarbeit verlassen. Aber es ist Arbeit, die sie selber übernehmen müssen.

«Eigentlich war der Schlussspurt unser Start»

frachtwerk: Publikumszahlen sind auch Einkommenszahlen. Die Finanzierung in der freien Szene ist auf mehreren Ebenen eine Zangengeburt. Wie zeigt sich die Kulturförderung eines Festivals?

Annette von Goumoëns: Aufgrund des Festivals «Tanzfest» gab es vom Kanton Luzern das Bestreben nach einem Festival, das mehr darstellende Künste beinhaltete und regional ausgeweiteter war. Der Kanton sprach einen unüblich hohen, aber immer noch nicht genügenden Betrag, der uns die Durchführung versicherte, da dann die Stadt und andere Förder:innen nachziehen würden. Allerdings erst zwei Monate vor Festivalstart. Seither sind wir im Vollstress, denn wir hatten weder Geld noch Zeit, das Team aufzustocken.

Gilda Laneve: Eigentlich war der Schlussspurt unser Start. Das ist immer ein Problem der freien Szene.

 

frachtwerk: Wenn wir das Festival als Standortbestimmung sehen, inwiefern renoviert «Ihre Majestät» die lokale Kulturszene?  

Annette von Goumoëns: Die freie Szene ist eine Ruine mit massivem, brachem Potential. Wir renovieren diese, ohne zu wissen, was entsteht. Hauptsache, es passiert etwas.

Gilda Laneve: Das hören wir auch von den Künstler:innen, da sie sich gegenseitig fast nicht kennen. Sich vernetzen, solidarisch sein und Projekte miteinander schauen gehen – diese Renovation von Innen heraus führt zu einem gemeinsamen, flächendeckenden Fundament, auf dem man aufbauen kann.  

Annette von Goumoëns: Die Vorbehalte innerhalb der Szene und das Gegendenken müssen sich auflösen, da die unterschiedlichsten Darstellungsformen dieselben Probleme haben. Deswegen projektieren wir querbeet.

 

frachtwerk: Spielt demnach der Name «Ihre Majestät» und das Logo eines Sparschälers auf das Abschaben alter Schichten an?

Annette von Goumoëns: Der Titel war inspiriert durch den Papst, zu dem alle strömen. Das wäre super für die freie Szene, indem wir sie auf ein Level pimpen, das sie nie erreicht. Es wurden Namensvorschläge aus der Szene eingereicht, 50 Leute stimmten darüber ab und schlussendlich wurde es «Ihre Majestät».

Gilda Laneve: Der Sparschäler deckt vieles ab: das Abschaben einer alten Haut, das Entdecken, was darunter liegt, wenn man tiefer gräbt, und das Zeigen, wie man mit ganz wenigen Mitteln vieles hervorholen kann.

Annette von Goumoëns: Mit Nichts das Maximum erreichen. Das zeichnet die Szene aus.

 

frachtwerk: Wie sind eure Zukunftspläne?

Gilda Laneve: Das war nur der Samen, den wir gesetzt haben. Dieses Potential, diese Intensität und dieses Vernetzen müssen weitergehen, da dieses Gefäss von den Künstler:innen mega geschätzt wurde. Weil sich alles anpassen und ändern kann, wird es, in welcher Form auch immer, weitergehen.

Annette von Goumoëns: Indem wir weitere Kantone als Kulturförderer einbinden, verfolgen wir die Aussicht, dass das Festival einmal in der ganzen Zentralschweiz stattfinden kann. Die jetzige Anzahl an Künstler:innen von überall und ihre Projekte zeigen diesen Willen.

 

frachtwerk: Eine letzte Botschaft an alle, die mit einem Festival der freien Performing-Arts-Szene (noch) wenig anfangen können.

Annette von Goumoëns: Alle Leute, die behaupten, neugierig zu sein, müssen zu uns kommen und ein ganzes Programm eines Abends schauen. Sie werden ohne Vorbehalte nach Hause gehen (lacht). Alle, die es schlecht fanden, erhalten von mir ein gratis T-Shirt des Festivals und müssen für uns Werbung machen. Ich bin einfach jeden Tag mega stolz auf das Potential von all diesen Leuten.

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