Machen wir ein Theater daraus! Aber welches – und für wen?

KOMMENTAR VON LÉON SCHULTHESS

Autor:in:
Léon Schulthess
Titelbild:
z.V.g.
Hinweise:

Ja, Luzern braucht ein neues Theater. Nein, ich diskutiere nicht über Architektur, sondern richte den Scheinwerfer auf eine Debatte, die im Projektierungsprozess zu kurz kam: Was ist eine zeitgemässe Institution «Theater» in Luzern? Mit der einzigartigen Chance eines neuen Gebäudes käme der beste Moment, um bestehende Strukturen im Theaterbetrieb kritisch zu beleuchten und zukunftsorientiert zu verändern. Laut Betriebskonzept sollen stattdessen alte Arbeits- und Produktionsformen durch eine moderne Infrastruktur ummantelt werden. Und die kulturpolitischen Akteur:innen nickten dies bislang stillschweigend ab.

 

Die theatersoziologische Forschung verdeutlicht: Das klassische Stadttheater-System ist heutzutage weder nachhaltig noch einer sich diversifizierenden Bevölkerung zugänglich. Die Intendanz reproduziert durch das Kunstphantasma des Genies ein Machtgefälle, welches Ausbeutungsmechanismen und prekäre Umgangsformen mit Angestellten, Gastkünstler:innen und der alternativen Kulturszene begünstigt. Die Abhängigkeit des Programms und des Personals von ihr erschwert zusätzlich einen konstanten Lokalbezug. Den Sinn eines Kulturhauses für verschiedene lokale Bevölkerungssegmente identitätsstiftend zu sein, verhindert auch das feste Ensemble. Es erschwert den konkreten Einbezug lokaler Künstler:innen und Kollektive in die Produktion wie auch den daraus folgenden flexiblen, inspirierenden und transkulturellen Austausch.

Dem gegenüber stehen flache Hierarchien durch programmatische Mitsprache von Vertreter:innen der breiten Kultur und Gesellschaft und die Auflösung des Ensembles. In hybriden Ensemble-Modellen oder zyklischen Engagements können Künstler:innen durch projektbezogene Arbeitsverträge abgesichert werden, die ihnen erlauben, an mehreren Häusern und in verschiedenen Kontexten zu arbeiten. So integriert sich das Theater stärker in ein lokales und überregionales Netzwerk.


Ein Beispiel dafür liefert das Stadttheater Fürth, das seit 1990 ohne festes Ensemble arbeitet. Dies führte zur Entwicklung eines profilierten Gastspielprogramms und zur Integration alternativer Ensembles durch Koproduktionen und Auftragswerke. Bis 2004 entstand ein Pool von ca. 70 Künstler:innen jeglicher Sparten, die mit Stück- und Zeitverträgen kontinuierlich beschäftigt werden. Im Jahr 2011 verzeichnete Fürth bei 172 Veranstaltungen ca. 90'000 Besucher:innen und finanzierte sich zu 40 % durch Ticketerlöse, womit Fürth jahrelang an der Spitze der Statistik des Deutschen Bühnenvereins stand. Die identitätsstiftende Bedeutung bezeugten Stand 2014 ein Theaterverein mit ca. 2000 Mitgliedern, ca. 7000 Abonnent:innen und eine durchschnittliche Auslastung von über 80 Prozent. 

Mit solcher Auslastung rechnet auch das neue Luzerner Theater (nLT), will es mit 100’000 Besucher:innen in der Saison 30/31 fast seine jetzige Zahl verdoppeln. Begründet wird dies im Konzept weder durch programmatische Öffnung noch durch eine Strategie der Publikumsentwicklung. Den Honeymoon-Effekt – ein erhöhtes Publikum in den ersten Jahren wegen des neuen Gebäudes – beachtet zwar das Konzept, schiebt aber den Aufbau einer nachhaltigen, interkulturellen Publikumsstrategie auf.

Erfahrungen von «New Audience Development»-Programmen in Grossbritannien zeigen: Dauerhaft neues Publikum an die Institution binden gelingt nur, wenn diese sich als Ganzes reformiert. Es geht um die interkulturelle Transformation von Kultureinrichtungen selbst. Die Orientierung an den Besucher:innen als Bestandteil der künstlerischen Arbeit, das Hinterfragen des eigenen Kulturbegriffs und die programmatische Öffnung für kulturelle und künstlerische Präferenzen anderer Bevölkerungsgruppen und neuer Akteur:innen – diese Haltungen vermisse ich im bisherigen Betriebskonzept.

Stattdessen nennt das Konzept einen Fokus auf Tourist:innen, was ich äusserst fragwürdig finde, angesichts der Notwendigkeit, dass das nLT sich zunächst als lokales Kulturhaus verstehen sollte. Es stellt sich auch die Frage nach den Konsequenzen, wenn der Eigenfinanzierungsgrad von 35 % durch Ticket-, Miet-, Gastro- und Sponsoringeinnahmen nicht erfüllt werden kann. Springt die öffentliche Hand ein, zulasten der alternativen Kulturszene? Werden Ticket- und Gastronomiepreise erhöht? Wird beim grössten Budgetposten, dem Personalwesen, gespart, welches einen erhöhten Produktionsdruck stemmen muss?

So kommt das Produktionssystem des Hauses ins Spiel. Die Mischung aus Repertoire und Stagione würde weitergeführt werden. Doch der Mechanismus des Repertoires beinhaltet die Gefahr, in die gängige Entwicklung zu rutschen, dass eine kontinuierliche Erhöhung der Anzahl Premieren kürzere Ruhepausen zur Folge hat und keine Zeit zur Reflexion über den Produktionsprozess zulässt. Eine Umlagerung auf das Stagione-System, wie das bspw. in der Romandie an grösseren Häusern praktiziert wird, begünstige eine flexiblere Spielplanung, längere Planungszeiträume wie auch eine tiefere Auseinandersetzung mit der Produktion. Die drei Säle würden auch in diesem System unterschiedliche gleichzeitige Angebote ermöglichen.

Wenn man schon das «Stadttheater» aus dem Namen gestrichen hatte, warum also nicht auch die damit verbundenen Mechanismen? Und da man das Projekt seit Beginn als offenes Haus vermarktet, wäre es angebracht, über den konsumfreien Aufenthalt im Foyer hinaus zu denken und die Haltung der Offenheit – die zugängliche, kooperative Integration verschiedener Akteur:innen – gezielt anzugehen und diese im Betriebskonzept konkret zu nennen. Weder die Miet- noch die Koproduktionsbedingungen entsprechen dem Motto.

Deswegen müssen auch die Förderstrukturen und die Kulturlandschaft Luzern neu verhandelt werden. Die Dichotomie der Institutionen des Zweckverbandes und der Alternativkultur muss sich auflösen, die Ressourcen für den Mittelbau und die Projektförderung müssen ausgebaut und niederschwellige, demokratische und identitätsstiftende Kulturräume für Luzerner:innen müssen gefördert werden. Die Verteilung der Finanzmittel muss im Sinne einer Theaterlandschaft reorganisiert werden, welche in wechselseitiger Vernetzung im urbanen Raum und darüber hinaus wirkt.
Das kulturpolitische Konzept «Theaterlandschaft» findet sich u. a. im Hildesheimer Modell wieder, welches zwischen 2002 und 2007 die Potenziale des Stadttheaters, der lokalen freien Szene und der kulturwissenschaftlichen Studiengänge vernetzte und bündelte. Daraus entstand ein dichtes Netz von Koproduktionen, Austauschaktivitäten und gegenseitigen Hilfeleistungen in Produktion, Ausstattung, Technik, Fundus und Marketing. Man reflektierte die Stadtgesellschaft und erreichte unterschiedliche Zielgruppen mit ihren Bedürfnissen und Rezeptionsgewohnheiten, indem man Impulse aus der freien Szene und der Kulturwissenschaften aufnahm und traditionelle Strukturen veränderte. Nach dem Abgang der Stadttheaterleitung unter Urs Bircher wurde diese Gestaltung der Theaterlandschaft von der Kulturpolitik jedoch nicht weiter mitgetragen. Dies zeugt vom Einfluss der kulturpolitischen und institutionellen Persönlichkeiten auf die Positionierung und Ausrichtung eines neuen Luzerner Theaters.

 

Ein Ja für den Projektierungskredit, welches bei dem fast einstimmig positiven Parolenspiegel zu erwarten ist, eröffnet das Planungs- und Umzonungsverfahren für den Bau von aktuell 130 Mio. Positive Stimmen besagen, der Projektierungskredit bestätige erst die Hülle und danach diskutiere man über die Fülle. Da aber die Hülle auf dem noch defizitären Betriebskonzept fusst, stellt sich die Frage, inwiefern sich das architektonische Konzept bei grundsätzlichen Veränderungen anpassen müsse oder könne. Ein Nein stelle die Stadt vor ein Problem, da sie keinen ausgereiften Plan B vorweisen kann. Die Totalsanierung des bestehenden Gebäudes von 80 Mio. wäre ein Ausweg, der sofort in einer Sackgasse münden würde.

 

Für mich stellen sich noch grosse Fragen, inwiefern sich das nLT öffnen wird, ob es Strukturen reflektieren wird und welches Selbstverständnis es als mächtigste Repräsentation der Luzerner performativen Künste tragen wird. Ob das nLT das zeitgemässe Potenzial anpackt, ein reformierendes Vorbild in der Schweizer Stadttheaterlandschaft zu sein und sich als synergetischer Teil einer dynamischen, innovationsfreudigen und mutigen Luzerner Kulturlandschaft zu definieren, obliegt der Kulturpolitik und den Verantwortlichen des Luzerner Theaters. Aber auch dem Druck aus der alternativen Kultur und der Bevölkerung, die massgebend sind für ein lebendiges und gerechtes Kulturschaffen.

 

Ja, Luzern braucht dringend ein neues Theater. Und einen breiteren, offenen Diskurs über die Verantwortung der Institutionen und der Politik für die lokale Kulturlandschaft, die sich nicht davor verschliesst, visionär neue Systeme, Potenziale und Strukturen anzugehen. Luzern darf mehr und anders wagen!

 

Léon Schulthess

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