«Das Einzige, was uns zusammengehalten hat, war das Schuldgefühl»

Verhüllt in einen unterhaltsamen Schwank lotst «Das perfekte Geheimnis» der Voralpentheater-Gruppe «Theater NAWAL» grundlegende Fragen über Zwischenmenschlichkeit aus. Die Inszenierung im Theater Pavillon durchbricht scheinbar gefestigte Beziehungen mit Geheimnissen und Schuldgefühlen und führt auf den Grat zwischen frommer Unkenntnis und radikaler Ehrlichkeit.

Autor:in:
Léon Schulthess
Titelbild:
Sam Aebi
Hinweise:

«Hallo!», winken sich die Freund:innen zu und treffen in überschwänglicher Euphorie auf der Dachterrasse ein, zum gemeinsamen Mondfinsternis-Spektakel. Die vertraute Zusammenkunft wird persifliert durch überzeichnete legere Stimmung und komödiantische Massenreaktionen. Das Publikum kriegt überall etwas zu beobachten, bespielen die Schauspieler:innen fast durchgehend den szenischen Raum. So bezeugt man hier und da, wie jemand fern des Dialoges eine Stechmücke klatscht, sich nachschenkt oder auf den Spielvorschlag reagiert: Alle Handys sollen offen auf dem Tisch liegen, sodass jede einkommende Nachricht von allen gelesen und gehört wird. Schliesslich haben die eng befreundeten Paare voreinander nichts zu verbergen.

Das Handy als Blackbox aller Lebensfacetten

Den proxemischen Rhythmus der Inszenierung bestimmt ebendieses Spiel. Auf Abruf finden sich alle in einem Pulk rund um die Handys zusammen, worauf die folgende Nachricht sie wieder auseinanderdriften lässt. Eine räumliche Übersetzung freundschaftlicher Nähe und Distanz inmitten der detaillierten, symbollosen Bühnenterrasse von Martin Finsterle. Die Inszenierung von Reto Ambauen konzentriert sich auf die Eigenkraft der Sprechakte, die im unaufgeregten Licht zur Geltung kommen und geradezu gefoppt werden, wenn ihnen das Dolce-Vita-Gefühl italienischer Popklassiker übergestülpt wird. Vorahnenden Einblick gewähren einbrechende Lichtkegel, in denen die Figuren ihr banges Geheimnis verraten, welches die im Black eingefrorene Masse nicht erfahren dürfe.

Die Dachterrasse wird zur Kulisse für eine Auseinandersetzung mit allen anderen - und besonders mit sich selbst. (Bild: Sam Aebi)

Je näher die Mondfinsternis rückt, desto düsterer entwickelt sich der Lauf des Spiels in eine unaufhaltsame Eigendynamik. Der Punkt, als besonnene Erwachsene ihre Laster auf geglätteten Wogen zu besprechen, war längst überschritten. Doch mitten in der wehrlosen Unbeständigkeit der engen Beziehungen gibt es einen Lichtblick ehrlicher, altruistischer Freundschaft: So bürdet Lukas (Jerry Duss) das Geheimnis von David (Florian Fischer) auf sich und ändert seine Identität, sodass er sich gegen die Feindseligkeiten verteidigt und das Zerwürfnis seiner Familie in Kauf nimmt – bloss um David nicht zu verraten.

«Psychoanalytikerinnen lassen sich nicht ihre Brüste vergrössern!»

Gehen die Enthüllungen zwar unter die Haut, erscheinen sie doch allzu absehbar. Die Thematik der Intimität beschränkt sich auf die sexuelle Ebene und bespielt Klischees. So gelingt es der dramatischen Grundlage «Perfetti Sconosciuti» von Paolo Genovese wie auch der deutschen Fassung von Sabine Heymann schwer, thematisch überraschender und andersartig intim zu werden. Trotz dieser sich einpendelnden Geheimnisse amüsiert die starke schauspielerische Leistung und die Inszenierung verleitet zur Überlegung: Soll ich mir ein Zweithandy anlegen?

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