Wenn die Luft vor Hitze stehen bleibt

Im einer Pariser Banlieue wachsen fünf Jugendliche in Chancenlosigkeit auf. Zwischen Hochhäusern, einer Betonplatte, die ihnen als Treffpunkt dient und dem grauen Vorstadt-Alltag suchen sie einen Ausweg, und finden ihn in den kleinen Freuden des Lebens. Eine einzige Nacht sorgt jedoch dafür, dass alles anders wird.

Autor:in:
Jonas Rippstein
Hinweise:

Ein drückender Hitzetag im Juli. Ein Parkhaus. Fünf Freunde in einem Pariser Vorort. Sie stellen sich auf einen ruhigen Abend ein, möchten Zeit verstreichen lassen. Zwischen den Türmen der Betonwüste, wo sie zu Hause sind, grillieren sie, bereiten sich aufs Feiern vor, oder drehen nie endende Runden auf ihren Rollern. Alles scheint ruhig – bis die Polizei auf sie zukommt.  

Die Freundesgruppe kennt sie bereits gut. Die Polizei und ihre willkürlich scheinenden Kontrollen sind Teil des Alltags in den Grosswohnsiedlungen. Racial profiling ist Realität. Die Gruppe von Jugendlichen, die alle einen arabischen und afrikanischen Hintergrund haben, lässt die wahllosen Kontrollen zähneknirschend über sich ergehen. Die Polizei ist allgegenwärtig in der Erzählung. Sie kommt wie ein wildes, herumlungerndes Tier daher, dass sich in der Grosswohnsiedlung versteckt, um aus dem Hinterhalt anzugreifen. So auch an besagtem Abend, als sie zunächst einen Club mit Tränengas attackiert, und später die Verfolgung von Bak und Samy, die auf einem Roller vor einer Kontrolle zu flüchten versuchen, aufnimmt, wobei Letzterer mit einem Schuss tödlich verletzt wird.  

Eindringlich und authentisch

Die Geschichte der Gruppe erzählt die französische Autorin Diaty Diallo in ihrem Debütroman Zwei Sekunden brennende Luft. Sie ist selbst auch eine banlieusarde, und ebenfalls in den Vororten von Paris aufgewachsen. Sie kennt die graue Realität der Wohnsiedlungen am Stadtrand und beschreibt diese eindringlich. Ihr Roman beschäftigt sich dabei in erster Linie mit der Frage danach, wie mit Wut umzugehen sei. Der Roman untersucht, ob und wie es möglich ist, mit der Ungerechtigkeit umzugehen, die tagtäglich in den Banlieues – in diesen sozialen Brennpunkten – reproduziert wird, ohne sich an ihr zu verbrennen. Hand in Hand mit der Wut läuft auch meist die Lust nach Rache. Zwei Sekunden brennende Luft eröffnet einen spannenden Raum zur Diskussion über eben diese Lust, und stellt die Frage, inwiefern Gerechtigkeit und Genugtuung ohne Gewalt erreicht werden können.  

Der Ort, wo diese Auseinandersetzungen stattfinden können, ist gleichzeitig der Ort, wo sich die Gruppe meistens trifft: Die Ebene 0 des Parkhauses – «La pyramide», wie sie sie nennen – in deren Nähe die Jugendlichen wohnen. Hier können sie, analog zur Nummerierung des Stockwerks, von Null anfangen, und eine neue Realität aufbauen, fernab der Schikanen, die die Strassen der Banlieues mit sich bringen. Dieser leere, unbesetzte Raum wird zum Experimentierfeld für die Gruppe, und zu dem Ort, wo ihre Emotionen Platz einnehmen dürfen.

Vom einen Moment zum anderen

Diallo fängt die Stimmung der Banlieues mit einer bedrückenden Präzision ein, die den Leser:innen kaum Luft zum Atmen lässt – die «zwei Sekunden brennende Luft» stehen symbolisch für jene kurzen Augenblicke zwischen friedlicher Stille und der explosiven Entladung von Gewalt. Diese Atmosphäre wird von der eigenwilligen Sprache des Romans unterstrichen: manchmal zart und mit Leichtigkeit poetisch, manchmal grau, derb und ungeschliffen wie der Alltag in der Betonwüste.  

Nebst der sprachlichen Präzision schafft es Diallo, vielschichtige Figuren in ihrem Werk auftreten zu lassen, in die der Roman tief hineinsieht, und deren tief verwurzelte Unruhe einfangen kann. Dabei bleibt die Autorin stets nah an ihren Charakteren und fängt ihre inneren Konflikte mit einer eindringlichen Intimität ein. Zudem ist es besonders beeindruckend, wie Diallo das Alltägliche mit dem Politischen verwebt. Jeder Moment, jeder Atemzug der Figuren scheint von der Möglichkeit durchdrungen, das fragile Gleichgewicht des Lebens zu kippen. In dieser schwellenden Spannung liegt die Kraft des Romans – eine Kraft, die unaufhaltsam auf den unausweichlichen Höhepunkt der Erzählung zusteuert.

Mit Zwei Sekunden brennende Luft gelingt es Diallo, die Realitäten der Banlieues auf eine einschlagende Weise einzufangen. Zudem ist das Werk ein Aufschrei gegen die Ungerechtigkeiten in den Vororten und eine tiefgreifende, poetische Reflexion über das menschliche Bedürfnis nach Freiheit und Würde. Diallos Debütroman ist schliesslich nicht nur ein literarischer Beitrag zum Verständnis unserer Gegenwart, sondern auch ein Werk mit einer rauen Schönheit, die lange nachklingt.

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